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„Kulturelle Bildung muss sich gegenüber der Migrationsgesellschaft öffnen“

Kultur offener denken, Dialogbereitschaft und gemeinsame Weiterentwicklung – diese drei Qualitäten hält Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakaşoğlu für zentral, wenn es um kulturelle Bildung in der Migrationsgesellschaft geht. Im Interview erklärt sie, was das für die Praxis bedeutet.

Porträtfoto von Yasemin Karakaşoğlu
Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Bremen. © Yasemin Karakaşoğlu

Frau Karakaşoğlu, Sie forschen an der Universität Bremen zu interkultureller Bildung und Bildung in der Migrationsgesellschaft. Was ist eine Migrationsgesellschaft?

Das ist eine Gesellschaft, die in all ihren Teilbereichen durch Migration geprägt ist, in die verschiedene Religionen, Sprachen und kulturelle Ausdrucksformen auf allen Ebenen der Gesellschaft Eingang gefunden haben und sich dort verbinden. In diesem Sinn ist jede Gesellschaft weltweit eine Migrationsgesellschaft, denn Gesellschaft und Kultur entwickeln sich immer über Wanderbewegungen und gegenseitige Beeinflussung. Davor kann sich niemand verschließen – nicht mal ein Inselstaat wie etwa Japan, der sich bislang als relativ geschlossen begreift. Soziale Routinen und juristische Vorschriften bedingen, wer in einer Migrationsgesellschaft dazugehört und mitwirken darf und wer nicht. Damit gehen potenziell immer auch Diskriminierung und Rassismus einher. 

Wie kann kulturelle Bildung dazu beitragen, diese Hierarchien aufzulösen und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit familiärer Migrationsgeschichte zu stärken?

Schulische Bildungschancen sind insbesondere in Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhängig. Außerschulische kulturelle Bildung, wie sie ein Programm wie „Kultur macht stark“ fördert, kann einen Gegenpol zum ausgrenzenden Leistungs- und Bewertungssystem der Schule bilden. Sie ermöglicht gelingende Lebensentwürfe und leistet einen wichtigen Beitrag für die Selbstwirksamkeit und Partizipation. Voraussetzung dafür ist, dass sich kulturelle Bildung kontinuierlich weiterentwickelt und sich für Menschen mit transnationalen Erfahrungen und Identitäten öffnet. Zu dieser Weiterentwicklung gehören aus meiner Sicht etwa der Beitrag von Mehrsprachigkeit und eine Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte sowie der jüngeren Migrationsgeschichte.

„Kultur macht stark” setzt sich dafür ein, kulturelle Vielfalt als Stärke und Bereicherung anzuerkennen. Zugleich geht es aus postmigrantischer Perspektive darum, Vielfalt als Normalität und nicht als Ausnahme zu begreifen. Wie gelingt es, beide Anliegen zu verbinden?

Darin liegt nur ein Spannungsverhältnis, wenn wir von einer Gesellschaft ausgehen, die irgendwann einmal homogen gewesen ist. Das ist aber nicht der Fall. Gesellschaften, aber auch wir alle als einzelne Personen vereinen in uns vielfältige Aspekte, die wir sowohl selbst entwickeln als uns auch von außen zugeschrieben werden. Diese Vielschichtigkeit unterschiedlicher Herkünfte und Bedürfnisse bezeichnet der etwas sperrige Begriff der Intersektionalität. Um einen solchen intersektionalen Blick in der Praxis umzusetzen ist es wichtig, in der kulturellen Bildungsarbeit mit den Menschen ins Gespräch zu kommen: Wie sehen sie sich selbst? Wie beziehen sie sich auf ihre verschiedenen Identitätsanteile? Was macht sie über ihre Herkunft hinaus aus, was sind ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen?

Der Zugang zu Kultur und kultureller Bildung ist noch immer voraussetzungsreich. Worauf sollten Einrichtungen achten, um Diversität zu fördern und integrationsfähiger zu werden?

Das ist insbesondere eine Frage an die klassischen Institutionen kultureller Bildung wie Museen oder Theater. Ob sich jemand von ihnen angesprochen fühlt, hängt nicht nur von seiner Sozialisation und familiären Tradition ab, sondern vor allem von dem bisherigen Selbstverständnis und den Strukturen der Institution. Um diese aufzubrechen und Distanz zu überwinden, braucht es einen langen Atem. Dazu reicht es nicht, einen guten Flyer rauszuschicken. Wichtig ist, proaktiv auf Menschen zuzugehen, die bisher nicht im Blick etablierter Kultureinrichtungen sind. Viele von ihnen wissen oft gar nicht, dass es Angebote gibt, die für sie interessant sind. Darüber hinaus spielt die Besetzung wichtiger Positionen eine Rolle. Kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt sollte sich auch beim Personal widerspiegeln, das in Einrichtungen Verantwortung trägt und Programme entwickelt.

Ihr aktuelles, BMBF-gefördertes Forschungsprojekt trägt den Titel „BIKuMiG - Bildungsinitiativen für den Erhalt und Transfer von Kulturkapital in der Migrationsgesellschaft“. Was erforschen Sie dort?

BIKuMiG ist ein Projekt in Kooperation mit der Universität Duisburg-Essen. Wir untersuchen kulturelle Bildungsprojekte, die Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet und in Bremen selbst organisieren. In diesen Projekten geht es darum, Kinder und Jugendliche mit solchen Kulturtechniken vertraut zu machen, die in der Schule in der Regel keine Beachtung finden. Das geht von der Vermittlung der Familiensprachen oder musikalischer Traditionen über künstlerische Ausdrucksformen wie Kalligrafie bis zu Sportarten wie Capoeira. Schulen begegnen diesen Angeboten von Migrantenorganisationen aber häufig noch reserviert. Uns interessiert, welche Erfahrungen es hier gibt und wie sich die Zusammenarbeit verbessern lässt. Denn die Effekte solcher Angebote sind unbestritten. Sie vermitteln vielfältige Identitätsangebote und stärken Selbstwirksamkeit und Resilienz der Teilnehmenden gegenüber Diskriminierung. Nicht zuletzt sind sie ein wichtiger Beitrag für kulturelle Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft und steigern die kulturelle Vielfalt der deutschen Bildungslandschaft.

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Yasemin Karakaşoğlu ist seit 2004 Professorin für Bildung in der Migrationsgesellschaft im Lehrgebiet der Allgemeinen Pädagogik an der Universität Bremen und Leiterin des gleichnamigen Arbeitsbereiches. 2021 erhielt sie den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für Engagement in der Einwanderungsgesellschaft.