„Mehrsprachigkeiten aller Art sind Teil der pluralen Gesellschaft“
Noch viel zu oft gilt es als Bildungsrisiko, mehrsprachig aufzuwachsen, darin sind sich Erziehungswissenschaftlerin Janne Braband und Buchautorin Andrea Karimé einig. Im Interview zeigen sie die Potenziale von sprachlicher Vielfalt in der kulturellen Bildung auf.

Frau Braband, Frau Karimé, Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit mit Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen. Was bedeutet sie und welche Chancen sehen Sie in sprachlicher Vielfalt für junge Menschen?
Karimé: Für mich ist erstmal immer wichtig: Es gibt nicht die Mehrsprachigkeit, sondern es gibt verschiedene Arten von Mehrsprachigkeit. Das Aufwachsen mit einer Sprache, die vom Umfeld als nicht ganz so prestigeträchtig wahrgenommen wird, unterscheidet sich erheblich vom Aufwachsen in einer Familie, wo Englisch oder Französisch gesprochen wird. Für mich ist sprachliche Vielfalt und jede Form von Mehrsprachigkeit in der pluralen Gesellschaft Normalität. Wenn ich bei meinen Lesungen Kinder treffe, dann habe ich manchmal Gruppen mit 20 verschiedenen Sprachen. Kinder sind von Mehrsprachigkeit umgeben und es sollte deshalb endlich als der Normalzustand anerkannt werden, der es in unserer vielfältigen Gesellschaft schon längst ist.
Braband: Aus meiner eigenen Forschung kann ich sagen, dass Sprache für mehrsprachig aufwachsende Kinder und ihre Eltern sehr viel mehr ist als ein bloßes Mittel der Kommunikation. Ich habe gesehen, dass Sprache und die verschiedenen Sprachen, die in den Familien gesprochen werden, ein ganz wichtiges Mittel sind für die Entwicklung der Identität. Viele Menschen – Kinder wie Erwachsene – verbinden ihre Sprache oder Mehrsprachigkeit auch damit, einen Platz für sich zu finden und gegen die immer wiederkehrenden Versuche vorzugehen, definiert oder in eine Schublade gesteckt zu werden. Mehrsprachigkeit dient damit auch als Anker und hierin sehe ich eine Chance sprachlicher Vielfalt.
Ein Gedicht aus einem „Wörterwelten“-Workshop von Andrea Karimé, einem „Kultur macht stark“-Projekt des Bundesverbandes der Friedrich-Bödecker-Kreise e. V.
Spinnenfedernetz
Ich sehe den Himmel, den Mond
Ich habe einen lila Stein gefunden
Im Meer
Ich habe drei Augen im Gesicht
In meinem Kopf ist eine Schildkröte
Und ein Spinnenfedernetz
Chaima A., 9 Jahre, Köln
Mehr Gedichte aus dem „Wörterwelten“-Workshop können hier gelesen werden.
Was muss passieren, damit jede Form von Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt in der Bildungsarbeit als Chance begriffen wird?
Braband: Nötig wäre eine Abkehr vom monolingualen Habitus, also einer einsprachigen Normalitätsvorstellung. Zwar gibt es in der Bildungspolitik heute einerseits das allgemeine Bekenntnis, dass Mehrsprachigkeit eine Ressource sei, aber in den bildungspolitischen Konzepten und Plänen geht es eigentlich doch immer nur um die Förderung des Deutschen; Mehrsprachigkeit wird auch weiterhin kritisch beäugt als mögliches Defizit und Risiko für Bildungserfolg. Damit sie als Chance begriffen wird, muss Mehrsprachigkeit bildungspolitisch und gesellschaftlich als Normalität akzeptiert werden.
Frau Karimé, heute sind Sie als Kinderbuchautorin tätig und begleiten Schreibprojekte mit Kindern und Jugendlichen. Als ehemalige Grundschullehrerin kennen Sie auch den schulischen Zugang zu Mehrsprachigkeit. Welche praktischen Unterschiede stellen Sie bei schulischen und außerschulischen Ansätzen fest?
Karimé: Ich hatte schon in meinen zwölf Jahren als Grundschullehrerin immer Probleme damit, wie eingesperrt die Sprache der Kinder und damit auch die Mehrsprachigkeit ist. Der Unterricht sieht hauptsächlich die Vermittlung der Normsprache vor und in meinen Kinderbüchern verzichte ich zugunsten der Originalität und Poesie auch manchmal auf grammatikalische Hyperkorrektheit. Meine Arbeit in kulturellen Bildungsprojekten ist in dieser Hinsicht freier und bietet mir mehr Möglichkeiten, mich kreativ mit der Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen auseinanderzusetzen. Hier kann ich zum Beispiel die Lyrik als Freiraum anbieten, in der auch fantastische und individuelle Sprachen Platz haben.
Ein Gedicht aus einem „Wörterwelten“-Workshop von Andrea Karimé, einem „Kultur macht stark“-Projekt des Bundesverbandes der Friedrich-Bödecker-Kreise e. V.
Salaam
Salaam
Frieden
Regenbogen
Ich höre Frieden
Frieden ist das beste
Peace
Salaam
Rahma T., 9 Jahre, Köln
Mehr Gedichte aus dem „Wörterwelten“-Workshop können hier gelesen werden.
Welche Potenziale liegen in der kulturellen Bildung für mehrsprachige Kinder und Jugendliche?
Braband: Wie Frau Karimé es beschrieben hat, liegt das große Potenzial der kulturellen Bildung darin, dass sie jenseits vom Leistungsprinzip der Schule funktioniert. Sie bietet mehr Freiräume, um den Fokus weg vom Deutschen als einzig akzeptierter Sprache auf das gesamtsprachliche Repertoire der Kinder zu erweitern. Darüber hinaus kann kulturelle Bildung mehr an der Lebenswelt ansetzen und im Vergleich zur Schule gezielter auf individuelle Bedürfnisse und Erfahrungen eingehen – ohne Angst, ohne Barrieren.
Karimé: In der kulturellen Bildung können wir zudem mehrsprachige Honorarkräfte einbinden und damit über positive Vorbilder einen zusätzlichen Weg finden, Kinder für Kultur zu begeistern. Als ich in meinem Schreib-Projekt zum Beispiel einmal einen kurdischen Autor eingeladen habe, waren das Staunen und die Begeisterung der kurdischstämmigen Kinder wahnsinnig groß – und das setzt natürlich nochmal eine ganz neue Motivation frei, sich als Kind im Schreiben auszuprobieren, wenn da plötzlich eine erfolgreiche Person vor einem steht, die dieselbe Sprache spricht wie man selbst.
Was brauchen Projektleitende und was sollten sie bei kulturellen Bildungsprojekten beachten, damit sich das Potenzial sprachlicher Vielfalt entwickeln kann?
Braband: Ganz wichtig ist, monolinguale Normalitätserwartungen kritisch hinterfragen zu können, die Fähigkeiten im Deutschen über andere Sprachen stellen. Darüber hinaus ist eine Vorsicht vor Exponierung, Exotisierung und Essentialisierung nötig, um Kinder und Jugendliche nicht aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit oder anhand anderer Merkmale wie Hautfarbe, Herkunft oder Religion zu ‚Anderen‘ zu machen und dadurch ihre Zugehörigkeit infrage zu stellen. Dafür bedarf es pädagogischer Kompetenzen, zu denen u. a. kritische Reflexionsfähigkeit, Wissen über Mehrsprachigkeit, aber auch ein gewisses Fingerspitzengefühl gehören. Hilfreich sind hier Weiterbildungen, in denen man diese Kompetenzen entwickeln kann.