„Inklusion erfordert den Mut, sich auf Neues einzulassen“
Die Musikpädagogin Irmgard Merkt setzt sich seit Jahrzehnten für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an kultureller Bildung ein. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen aus Wissenschaft und Praxis.
Frau Merkt, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an kultureller Bildung ein. Was braucht es, damit Teilhabe gelingt?
Wichtig ist zunächst der Blick auf die Zielgruppe. Wenn wir von Kindern und Jugendlichen sprechen, sind das die rund 500.000 Kinder und Jugendliche mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf in ganz Deutschland. Inklusiv sind kulturelle Bildungsangebote immer dann, wenn sie junge Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringen – und zwar über bestehende schulische Förderprogramme hinaus. Damit das funktioniert, braucht es je nach den spezifischen Beeinträchtigungen spezifische Angebote. So benötigen Lehrkräfte für die Arbeit mit sehbehinderten oder gehörlosen Kindern und Jugendlichen andere Kompetenzen als für die Arbeit mit Kindern mit intellektueller Beeinträchtigung. Entsprechend spezialisiert sollte das Lehrpersonal sein.
Was ist Ihrer Erfahrung nach wichtig, um kulturelle Bildung inklusiver zu gestalten?
Teilhabe setzt Barrierefreiheit auf allen Ebenen voraus. Äußere Barrieren hindern Menschen mit Beeinträchtigungen daran, von A nach zu B kommen. Nicht barrierefreie Websites hindern sie daran, sich über kulturelle Angebote zu informieren. Auch das Fehlen gezielter Ansprache, gezielter aufsuchender Kulturarbeit ist eine Barriere. Bündnisse wie die von „Kultur macht stark“ können hier Abhilfe schaffen – insbesondere in ländlichen Räumen. Für inklusives Arbeiten braucht es Kompetenz und Mut, sich mit Freude auf Neues einzulassen. Ich erinnere mich an das Beispiel eines Jungen mit Trisomie 21, der Saxophon lernen wollte. Erst der vierte Musiklehrer gab dem Vater die Antwort „Wir probieren das mal“ – und erfüllte dem Jungen so einen Lebenstraum.
Sie haben sehr viel über interkulturelle und inklusive Musikpädagogik geforscht. Warum sollten Inklusion und Integration zusammengedacht werden?
Besonders in Ballungsräumen haben in den Förderschulen bis zu 90 Prozent der Kinder eine Migrationsgeschichte. Allein deshalb ist es sinnvoll, Inklusion und Integration beziehungsweise Interkulturalität zusammenzudenken. Das Grundprinzip meines pädagogischen Ansatzes ist die Beschäftigung mit einem übergeordneten kulturellen Thema, das ein Mosaik verschiedenster künstlerischer Ausdrucksformen eröffnet. Ein Beispiel: Überall auf der Welt gibt es Flöten, wie Blockflöten, Panflöten oder Längsflöten. Darauf wird ganz unterschiedliche Musik erzeugt. So wie verschiedene Kulturen das Prinzip Flöte auf ihre jeweils eigene Art umsetzen, gibt es auch Spielmöglichkeiten für Menschen mit unterschiedlichen intellektuellen oder motorischen Fähigkeiten.
Sie arbeiten selbst mit Chören zusammen und haben den inklusiven Chor „stimmig“ gegründet. Worauf kommt es Ihnen dabei an?
Der Chor ist ein Ort der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen. Beim Singen geht es darum, den eigenen Atem zu spüren und sich in seinem Körper wohlzufühlen. Zum Singen gehört aber auch die Information darüber, was da gesungen wird. Dazu halte ich keine wissenschaftlichen Vorträge, sondern bette jedes Lied in eine Geschichte ein. Körperliches Wohlbefinden, soziale Kontakte und Geschichten – das Gesamtpaket dieser drei Elemente ist zentral für meinen Chor – und ein gutes Rezept für kulturelle Bildung insgesamt.
Musik hat auch therapeutische Effekte. Welche Rolle spielen diese in Angeboten inklusiver kultureller Bildung?
Therapie ist im Gesundheitswesen verortet, kulturelle Bildung im Erziehungswesen. Obwohl es Übergänge zwischen beiden Bereichen gibt, ist mir eine klare Unterscheidung wichtig. Das Ziel jeglicher Inklusion ist es, Behinderungen als Teil der Normalität anzuerkennen. Menschen mit Behinderung nehmen an kultureller Bildung als reguläre Mitglieder der Gesellschaft teil und nicht als permanent Therapiebedürftige. Deshalb plädiere ich dafür, den Therapiebegriff nicht inflationär zu gebrauchen.