Wie Kultur junge Stimmen sichtbar macht und Demokratie stärkt
In der kulturellen Bildung üben junge Menschen demokratisches Handeln ein. Was gute Projekte auszeichnet, fragten wir Dominik Ringler, Projektleiter des Kompetenzzentrums Kinder- und Jugendbeteiligung (KiJuBB) Brandenburg, und Julia Römling von der Beratungsstelle „Kultur macht stark“ Hamburg.

Wie steht es um das Demokratieverständnis von Kindern und Jugendlichen in Deutschland?
Ringler: Das ist viel besser als Erwachsene häufig annehmen, wie etwa die Shell-Jugendstudie zeigt. Zwar ist es zuletzt leicht gesunken, gleichzeitig immer noch auf einem hohen Niveau. Aber: Gerade junge Menschen haben ein feines Gespür für Machtverhältnisse und Ungleichheit und fühlen sich oft nicht gehört. Das begann in den Corona-Jahren und gilt bis heute. Sie wollen sich beteiligen und Erwachsene fordern diese Beteiligung formal auch ein. Real fehlen aber Einflussmöglichkeiten für sie, denn es gibt kaum strukturelle Einbindungen, kaum Beteiligungsmöglichkeiten auf Augenhöhe, Machtteilung und Machtabgabe. Und diese Diskrepanz untergräbt aus meiner Sicht das Vertrauen von jungen Menschen in politische Institutionen. Wenn diese regelmäßig mitbekommen, dass ihre Stimme in der Realität nicht zählt, ziehen sie sich zurück. Sie tun das nicht aus Desinteresse, sondern aus Enttäuschung, weil sie keine Selbstwirksamkeit erleben. Deshalb gilt: Wir müssen demokratische Bildung von Kindern und Jugendlichen systematisch und vor allem verbindlich stärken – in der Schule und in der außerschulischen Bildung.
Welche Rolle spielt die außerschulische kulturelle Bildung, wenn es um eine starke Demokratie geht?
Römling: Kulturelle Bildung kann für unsere Demokratie unglaublich viel bewirken, weil sie schon ab dem Kindergartenalter kreative Räume eröffnet. Kinder und Jugendliche erfahren dabei Selbstwirksamkeit und können – ganz ohne Leistungsdruck und ohne bewertet zu werden – Lust am Mitgestalten finden und behalten diese im besten Fall auch.
Ringler: Weil Schulen meist sehr hierarchisch organisiert sind, ist dort das praktische Einüben demokratischen Handelns oft eher schwierig. Deshalb spielen für die Demokratiebildung andere Bereiche der Lebenswelt junger Menschen so eine wichtige Rolle, in Kommunen oder etwa in der Jugendhilfe, besonders mit ihren offenen Angeboten. Unsere Demokratie profitiert aber noch auf eine weitere Art: Indem junge Menschen in der kulturellen Bildung kreative Ausdrucksmöglichkeiten erlernen und darüber ihre Ideen und Stimmen für andere sichtbar machen, schaffen sie eine Gegenöffentlichkeit zu der Erwachsenenwelt. Unsere Gesellschaft erfährt so, was jungen Menschen eigentlich wichtig ist.
Nutzen wir aktuell das gesamte demokratiefördernde Potenzial der kulturellen Bildung?
Ringler: Mein Eindruck ist, dass unsere Gesellschaft das Potenzial der kulturellen Bildung und ihre zentrale demokratiefördernde Rolle oft nicht erkennt – auch mit Blick auf die Förderstrukturen. Das Bundesprogramm „Kultur macht stark“ ist da bislang eine Ausnahme. Viele Menschen sehen Kultur- oder Kreativangebote als unpolitisch, eher als Methode und nicht als Bildungsinstitution für das Demokratieverständnis wie die schulische Bildung oder die politische Bildung.
Römling: Es stimmt mich aber hoffnungsvoll, dass das Förderprogramm „Kultur macht stark“ im Koalitionsvertrag gleich an zwei Stellen erwähnt wird – und diesmal auch unter der Überschrift „Demokratie und Medienbildung“. Das, was „Kultur macht stark“ bundesweit anbietet, wird fantastisch angenommen mittlerweile. Ich hoffe, dass dies als wichtiges Signal wahrgenommen wird, was kulturelle Bildung in diesem Bereich leisten kann und bereits leistet und wie wichtig die Förderung von kultureller Bildung ist, um so allen einen Zugang zu ermöglichen.
Inwiefern sind die von „Kultur macht stark“ geförderten Projekte besonders demokratiestärkend?
Römling: Projektleitende können verschiedene Bedarfe in die Finanzierung einplanen und die Projekte sind für Teilnehmende kostenfrei. So sprechen sie Kinder und Jugendliche an, die oft keinen oder nur wenig Zugang zu kulturellen Bildungsangeboten außerhalb der Schule haben. Die Projekte sollen außerdem diskriminierungssensibel und möglichst inklusiv gedacht und gestaltet sein. Zu versuchen, alle mitzudenken und einzubeziehen, ist meiner Meinung nach ein wichtiger Schritt, die Demokratie zu stärken. Darüber hinaus versuchen die Bündnisse, die Projekte zunehmend partizipativer zu gestalten, die Teilnehmenden also immer stärker in die Ausgestaltung einzubeziehen. So üben junge Menschen demokratische Methoden ein und leisten einen Beitrag – auch wenn in den Projekttiteln das Wort „Demokratie“ nicht vorkommt.
Ringler: Projekttitel mit dem Begriff „Demokratie“ sind natürlich in der Erwachsenenwelt und in der Fachwelt sichtbarer. Aber für Kinder und Jugendliche ist es viel wichtiger, dass Demokratie drinsteckt und gelebt wird.
Was bedeutet das konkret für eine gute Projektpraxis?
Ringler: Da gibt es vier wichtige Punkte: Erstens sollten solche Projekte Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen Projektebenen schaffen und zum Beispiel Adultismus kritisch reflektieren. Zweitens sollten solche Projekte Diversität nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Ressource anerkennen und dadurch eine Zugänglichkeit für alle Kinder und Jugendlichen schaffen. Drittens gehört zu demokratisch ausgerichteten Projekten eine fehlerfreundliche Kultur. Und viertens sollte das Projekt an die Lebenswelt von jungen Menschen anknüpfen. Die Kinder und Jugendlichen sollten also einerseits ihr Alltags- und Erfahrungswissen mit einfließen lassen können und andererseits sollten Projektzeiten und -orte auch zu ihren Lebenswelten passen.
Römling: Bei den Projektleitenden ist ein hohes Maß an Flexibilität gefragt, wenn sie Kinder und Jugendliche mitentscheiden lassen wollen. Das ist manchmal sogar ein großer Balanceakt, einerseits das Grundkonzept weiter zu verfolgen und andererseits trotzdem genau die Themen zu berücksichtigen, die die Teilnehmenden gerade wirklich bewegen.
Projekte sind endlich, Strukturen bleiben. Kann „Kultur macht stark“ auch Strukturen verändern?
Römling: Ja das ist möglich, setzt aber immer ein „Wollen“ voraus. Erwachsene in den Kultureinrichtungen müssen es wollen, Kinder und Jugendliche mehr zu beteiligen. Es gibt zum Beispiel das Förderangebot „Wege ins Theater“ des „Kultur macht stark“-Programmpartners ASSITEJ mit dem Format „Theater-Entscheider*innen“. Dieses Format ermöglicht es Theaterhäusern, junge Menschen beispielsweise in Jurys oder bei der Gestaltung des Programms als Entscheiderinnen und Entscheider einzubinden. Von solchen Projekten wünsche ich mir mehr – auch in anderen kulturellen und nicht-kulturellen Einrichtungen! Überall wo Projekte und Programme für junge Menschen geplant und gestaltet werden, sollten diese einbezogen werden. Es tut unserer Demokratie gut, wenn mehr Einrichtungen Kinder und Jugendliche mitgestalten lassen und sie einladen, für sich selbst zu sprechen. So machen sie Beteiligung erfahrbar.