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Wie zeitgemäß sind Jungen- und Mädchengruppen in der kulturellen Jugendarbeit?

Ein Interview mit Marc Melcher, Bildungsreferent, Genderpädagoge und Jungenarbeiter beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband, über Rollenvorbilder, -klischees und geschlechtsbezogene Jugendarbeit.

Herr Melcher, Geschlechterrollen spielen in der öffentlichen Debatte gerade eine große Rolle. Es wird diskutiert, ob die Zuordnung zu den Geschlechterrollen als weiblich und männlich noch zeitgemäß ist. Parallel gibt es einen Trend hin zu traditionellen Rollenbildern. Wie präsent ist das Thema in der Lebenswelt von Jugendlichen?

Marc Melcher: Als Fachkraft schaue ich auch auf wissenschaftliche Studien wie die Shell oder die Sinus Jugendstudie. Sie stellen fest, dass Bildungsposition und Populismusaffinität sich bei den Jugendlichen bedingen und dass ein gewisser Anteil von ihnen die Pluralisierung der Lebensweisen ablehnt, ein Großteil diesem Thema aber offen gegenübersteht. Einige Studien zeigen auch auf, dass durch die Corona-Pandemie und ganz aktuell durch den Krieg in der Ukraine gewisse Retraditionalisierungstendenzen eine große Rolle spielen. Die Jugendlichen nehmen wahr: Wer erledigt zu Hause die Care-Arbeit? Wer hat sich um die Kinder gekümmert, als die Schulen geschlossen waren? Welches Bild von Männlichkeit wird durch Krieg und Aufrüstung geprägt? Das ist aktuell höchst interessant.

Machen Sie diese Beobachtungen auch in der Praxis?

Ich rate dazu, sich individuell, differenziert und vorurteilsfrei genau jene Gruppe von Jugendlichen anzusehen, die vor mir steht: Was interessiert und bewegt diese jungen Menschen? Das kann sehr divers sein und oft treffen hier traditionelle auf postmoderne Lebensweisen. Bei wirklich allen Jugendlichen spielen die Themen Geschlechteridentität, Rollenbilder und damit verbundene Abwertungserfahrungen eine Rolle. Meine Aufgabe als pädagogische Fachkraft ist es hier, Schutz- und Freiräume zu bieten, in denen sich die Jugendlichen austauschen und ihre Themen platzieren können. Wir sollten uns auf jeden Fall klar sein, dass Geschlechts- und Rollenzuschreibungen extrem wirkungsstark sind.

Welche Faktoren haben auf die geschlechtlichen Rollenbilder Einfluss?

Fachkräfte sind schnell dabei, den kulturellen Background hinzuzuziehen: Familien, Tradition, Stadt-Land. Das ist nicht immer ein Treffer. Sozialraum, Herkunft und Peergroup haben einen Einfluss auf die Lebenswelten der jungen Menschen – sind aber nicht immer zielführend in der Betrachtung, da auch wir als Fachkräfte nicht immer frei sind von Vorurteilen und Klischees. Sich das bewusst zu machen – inklusive der eigenen Privilegien ist ein wichtiger Schritt.

Wie man diese Themen in der kulturellen Jugendarbeit aufgreifen?

Es ist erst einmal wichtig, sich mit den Lebenswelten der Jugendlichen zu beschäftigen und sich dafür zu sensibilisieren, wie die Jugendlichen sich darstellen. Ein erster Schritt ist, zu beobachten, wen man vor sich hat und wie mit Abwertung in der Gruppe umgegangen wird: Wer positioniert sich wie? Wer ist der Sprecher oder die Sprecherin der Gruppe? Wesentlich beim Beziehungsaufbau ist zunächst, mehr zu beobachten und weniger zu bewerten, zunächst Interessen und Bedarfe der Gruppe festzustellen und weniger die eigene Meinung einzubringen.

Deswegen ist auch die prozessorientierte Zusammenarbeit zwischen pädagogischen und künstlerischen Fachkräften, wie sie in den Bündnissen von „Kultur macht stark“ gelebt wird, so eine schöne Sache. Sie bietet die Möglichkeit zur Reflexion und zum fachlichen Austausch aus unterschiedlichen Perspektiven. In der künstlerischen Arbeit mit den Jugendlichen können sehr kreative Wege entstehen, sich mit den Themen Gender, Rollenbilder und Identität auseinanderzusetzen – über das Medium Kunst. Wir hatten zum Beispiel mal eine Theater-AG, in der ein Junge war, der einen sehr langen Anfahrtsweg in Kauf genommen hatte, um daran teilzunehmen. Die Jugendlichen sollten auf der Bühne Gefühle darstellen und er ging in dieser Aufgabe richtig auf, konnte es aber hinterher schwer in Worte fassen. Den Mädchen der Gruppe dagegen gelang das „Darüber reden“ leichter, sie konnten die Gefühle aber schwerer darstellen und ausleben. Solche Diskrepanzen kann man wunderbar thematisieren und hinterfragen – immer auf freiwilliger Basis und in Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden. Jugendliche nehmen oft viel mit aus solchen Diskussionen.

Wie zeitgemäß sind Jungen- und Mädchengruppen noch in der kulturellen Jugendarbeit?

Das Arbeiten in geschlechtshomogenen Gruppen ist nach wie vor sehr aktuell. Denn sie machen Schutzräume auf, in denen sich die Jugendlichen anders öffnen können als in heterogenen Gruppen. Hier können sie über ihre Bedürfnisse losgelöst kommunizieren und müssen nicht so sehr in ihren stereotypen Rollenbildern performen, da sie weniger Angst haben müssen, sich nicht rollenkonform zu verhalten.

Eine spannende Erfahrung aus der Praxis der Jungen*arbeit ist, dass in geschlechtshomogenen Gruppen die Individualität der Subjekte in den Vordergrund rückt, um sich auch vor der Gruppe als Individuum darstellen zu können. Bei Jungen*- und Mädchen*arbeit setze ich immer das Sternchen, damit auch junge trans- oder auch intergeschlechtliche Menschen sich mit einbezogen fühlen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch konkrete Angebote, die sich an queere Jugendliche richten. Hier wissen sie sofort, dass sie sich nicht outen müssen und nicht ausgegrenzt werden.

Schön ist es auf jeden Fall, wenn man im Projektverlauf eine gewisse Flexibilität hat, auch spontane Entwicklungen aufzunehmen und die Gruppe (zeitweise) trennen zu können. Und politisch wie fachlich halte ich es für absolut notwendig, Mädchen*arbeit anzubieten. Mädchen sind immer noch häufig von Abwertungserfahrungen im öffentlichen Raum wie Catcalling betroffen. Auch Jungen, die von Mobbingerfahrungen betroffen sind, bekommen selten die Möglichkeit darüber zu reden. Hier ist der Bedarf an Angeboten groß.

Jugendliche, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind, erleben an vielen Stellen nach wie vor, dass „anders sein“ als Stigma erlebt wird. Wie kann das Thema in der kulturellen Jugendarbeit kreativ einbezogen werden?

Oft bringen die Jugendlichen solche Themen schon von sich aus mit: Körpernormierung, Schönheitsideale, Rollenbilder, sexuelle Orientierung, Politik und Identität. Wichtig dabei ist mir immer der partizipative Ansatz. Am Anfang des Projekts lege ich gemeinsam mit den Teilnehmenden die Regeln fest. Oft kommt dann, dass ein fairer und respektvoller Umgang gewünscht wird. Darauf kann ich im Verlauf des Projekts immer wieder auch als Projektleitender zurückkommen. Als Person muss ich hier auch immer ansprechbar sein und professionelle Nähe bieten. Es braucht in solchen Projekten immer Menschen, die den Kids authentisch als Rollenmodelle dienen können. Das muss nicht immer der oder die pädagogische Fachkraft sein, das können auch Künstler*innen sein, die im Projekt dabei sind wie bei „Kultur macht stark“. Wenn so jemand dabei ist, kann dessen Begeisterung junge Menschen mitnehmen.

Ab welchem Alter bietet es sich an, solche Themen zu platzieren?

Der „Junge im Kleid in der Kita“ ist in vielen Regionen in Deutschland immer noch ein Aufregerthema. Hier braucht es bei den Fachkräften fundiertes Wissen zur Genderpädagogik. Das Thema sollte unbedingt in der Erzieher*innenausbildung einen festen Part bekommen. Das ist leider auch 2022 immer noch nicht Standard, obwohl es im § 9 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz vorkommt. Und jeder und jede sollte einmal selbst seine eigenen Rollenklischees hinterfragen. Das fängt schon bei der Kleidung an, ob ich einem Kind sage: „Das ist aber ein schönes T-Shirt“ oder „Das ist aber ein cooles T-Shirt“. „Cool sein“ wird eher Jungs zugeschrieben und „schön“ Mädchen – solche Rollenzuweisungen sind sehr stark und beeinflussen das Selbstbild der Kinder.

Inklusion, Gender, Feminismus sind immer noch in der Gesellschaft abwertend betrachtete Themen. Sobald es an Machtstrukturen geht, werden sie infrage gestellt. Viele regen sich über das Gendersternchen oder gendergerechte Sprache auf. Aber ist das zielführend? In der Kita sollen Kinder experimentieren, sich und die Welt kennenlernen. Gemeinschaft und vielfältige Spielmöglichkeiten erfahren. Ein guter Hinweis ist immer, zu entdramatisieren. Eltern erreiche ich am besten, wenn ich das Thema konkretisiere: Schule, Bildung, Berufswahl, Gesundheit – was hat das mit dem Thema Geschlecht zu tun? Dann wird es konkret!

Was wünschen Sie sich für die derzeit Heranwachsenden?

Jungen Menschen ihre Identitätssuche so zu ermöglichen, dass sie glücklich damit sind.

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Marc Melcher arbeitete nach seinem Pädagogik-Studium acht Jahre in einer offenen Kinder- und Jugendeinrichtung. In dieser Zeit absolvierte er die Fortbildung zum Jungenarbeiter sowie die Weiterbildung zum Genderpädagogen beim Jugendinstitut des Bayerischen Jugendrings. Seit 2009 ist er beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband, Programmpartner in „Kultur macht stark“, für die Leitung von geschlechtsbezogenen Jungen*projekten und der Leitung Fachstelle Jungenarbeit Hessen zuständig. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit.