Von der Empathie zur Aktion: die Welt etwas besser machen
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) ist das Herzensthema von Angela Merl. Ein Gespräch mit der Theaterpädagogin am Theater in Bonn über nachhaltiges künstlerisches Erforschen gesellschaftlicher Themen – spielfreudig, kreativ und intensiv.
Angela Merl wechselt zu Beginn der Spielzeit 2022/23 als Leiterin des Jungen Theaters ans Theater nach Münster. Sie ist 2. Vorsitzende des Vereins SAVE THE WORLD e.V., engagiert sich unter anderem im BNE- Partnernetzwerk kulturelle Bildung und Kulturpolitik sowie im nordrhein-westfälischen Arbeitskreis Kinder und Jugendtheater. Sie ist auch Mitglied in der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ).
Frau Merl, mithilfe der Kunst die Welt retten – das ist ein ambitioniertes Ziel. Wo setzen Sie an, um die Welt ein bisschen besser zu machen?
Angela Merl: Kunst und Kultur können den Wunsch nach Veränderung in Gang setzen. Sie können Lust darauf machen, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen – und zwar auf kreative, inspirierende Art und Weise. Es ist ein ehrgeiziges Vorhaben, aber Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat die Transformation der Gesellschaft als erklärtes Ziel.
Und dabei kann kulturelle Bildung eine maßgebliche Rolle spielen?
Kulturelle Bildung ist einer der Schlüssel für ein gleichberechtigtes Miteinander. Sie kann die Gesellschaft im Kern als Gemeinschaft zusammenhalten. Ihre Herangehensweise und Methodik bietet die Chance, mit neuen Sprachformen zu experimentieren und Möglichkeitsräume der Auseinandersetzung fernab eines rein rationalen Diskurses zu schaffen. Sie bietet die größtmögliche Chance, sich in einem offenen, freien Prozess auch jenseits des kognitiven Wissens mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen, lässt das künstlerische Erforschen von Themen zu, die uns interessieren, die uns am Herzen liegen – und zwar gleichberechtigt, jenseits vom sozialen Bildungsstatus. Sie ermöglicht Austausch auf Augenhöhe – das ist Teilhabe.
Darum geht es auch beim BNE-Ziel „Quality Education“, das Ihnen besonders am Herzen liegt. Könnten Sie den Begriff kurz erläutern?
Die Vereinten Nationen haben im September 2015 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung definiert. Ziel Nummer 4 ist die „Quality Education“, die qualitativ hochwertige Bildung. Es zielt darauf ab, allen Kindern und Jugendlichen auf der Welt Zugang zu kostenloser, gerechter und hochwertiger Bildung zu ermöglich. Angefangen von der Kita über grund- und weiterführende Schulen bis hin zur Berufs- und Hochschulausbildung. Dabei geht es auch um gleichberechtigte Bildungszugänge, Mädchen haben die gleichen Rechte wie Jungen. Mein Lieblingszitat dazu ist eines von Nelson Mandela, dem Widerstandskämpfer gegen die Apartheit und ehemaligen Präsidenten Südafrikas: „Bildung ist die mächtigste Waffe, um die Welt zu verändern.“
Bildung als Schlüssel, um das Leben von Menschen nachhaltig zu verbessern?
Dem zugrunde liegt ein Verständnis von Bildung, das weit über die Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können, hinausgeht: Bildung befähigt Menschen dazu, ihre Potenziale zu entdecken, zu entfalten und selbstbestimmt leben zu können. Langfristig profitieren davon nicht nur die oder der Einzelne, sondern auch die eigenen Kinder, die Familie, die Gemeinschaft bis hin zum Land, in dem man lebt. Bildung in diesem Sinne ist die Basis für die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit.
Deshalb ist die kulturelle Teilhabe, um die es ja bei „Kultur macht stark“-Projekten neben der Vermittlung künstlerischer Ausdrucksformen geht, auch so wichtig?
Die durch „Kultur macht stark“ geförderten Projekte machen es möglich, dass Kinder und Jugendliche sich künstlerisch ausprobieren können, dadurch eröffnen sich ihnen neue Perspektiven und Handlungsräume. Unabhängig von ihrer sozialen Situation erfahren sie sich als kreativ und auch als selbstwirksam. An Theatern eröffnen sich Kindern und Jugendlichen vielfältige Zugänge zu kultureller Bildung. Neben den speziellen künstlerischen Produktionen für junges Publikum stehen zahlreiche Vermittlungsformate wie Workshops, themenbezogene Projekttage und Einblicke hinter die Kulissen im Zentrum unserer Arbeit. Ebenso finden viele kreative, partizipative Projekte statt, in denen Jugendliche sich selbst künstlerisch erproben können. Teilhabe geht über das Zuschauen und Zuhören hinaus.
Wie gelingt es, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen, deren Familien keine kulturellen Erfahrungen ermöglichen können?
Aus meiner mehr als 16-jährigen Erfahrung als Theaterpädagogin kann ich sagen, dass Kooperationen mit Schulen sehr erfolgreich sind. In den Schulen erreichen wir Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Lebenslagen. Am Theater in Bonn haben wir ein Format entwickelt, in dem finden drei neunte Klassen aus unterschiedlichen Schulformen und Stadtteilen zusammen. Da gibt es anfangs Ressentiments, es gibt Vorurteile und Rollenstereotype – je nach Zusammensetzung der Gruppen. Diese werden abgebaut, wenn man einander begegnet, wenn man sich kennenlernt. Die Jugendlichen stehen am Ende gemeinsam auf der Bühne. Aber genauso wichtig ist es, im außerschulischen Bereich Zugänge zu kultureller Bildung zu schaffen. Hier finden seit Jahren sehr erfolgreiche „Kultur macht stark“-Projekte statt, die allein durch die Vorgabe der unterschiedlichen Bündnispartner interdisziplinär und vielseitig aufgestellt sind. Diese Selbstverständlichkeit der Kooperation ist eine Grundvoraussetzung, um möglichst viele junge Menschen zu erreichen.
Sie sind Theaterpädagogin, schätzen aber den interdisziplinären Austausch und die Zusammenarbeit?
Das bereits erwähnte Projekt war ein inklusives und interdisziplinäres Theaterprojekt. Grundsätzlich sind die Sparten, die in unseren Projekten aufeinandertreffen, weit gefächert: von der Musik über die bildende Kunst, von Text- oder Videoformaten bis hin zum Schauspiel und szenischen Darstellungen. Ähnlich sind ja auch viele „Kultur macht stark“-Projekte aufgestellt, die zum Beispiel am MOKS Theater in Bremen stattgefunden haben oder auch am Kreativhaus in Münster. Dort arbeiten Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Bereichen mit den Kindern und Jugendlichen, dabei nehmen sie deren Vorschläge und Ideen auf. Während der Probenprozesse setzen sich die Teilnehmenden intensiv mit einem Thema auseinander, das einen Bezug zu den UN-Nachhaltigkeitszielen hat und können sich dabei für einen künstlerischen Schwerpunkt entscheiden. Sie probieren sich und ihre Kreativität aus und entwickeln neue Perspektiven, die über die künstlerische Form sichtbar werden.
Wie wichtig ist die Präsentation des Erarbeiteten?
Im Scheinwerferlicht zu stehen, den Mut zu haben, das was erarbeitet worden ist, vor einem Publikum zu zeigen und die erarbeiteten Gedanken vor Publikum laut auszusprechen, erfordert für viele Jugendliche erst einmal sehr großen Mut. Es bietet zugleich aber auch die Chance, über sich hinauszuwachsen – aus meiner Sicht gibt es kaum etwas Schöneres, als genau das im Schutzraum der eigenen Gruppe erleben zu können. Dieser Moment, sich einem Publikum mitzuteilen, zu erleben, dass die eigene Stimme gehört wird und der Raum sich am Ende mit tosendem Applaus füllt, bleibt für viele ein unvergessliches Erlebnis.
Welche theaterpädagogischen Ansätze gibt es, eine nachhaltige Wirkung zu erzielen?
Ein Stichwort ist „from empathy to action“, also von der Empathie zur Aktion. Kinder und Jugendliche erhalten Handlungsspielräume, können auch mal etwas verwerfen. Wenn gemeinsam Theaterstücke oder Performances entstehen, sprechen die Beteiligten auch über ihre Ideen, Meinungen und Gefühle. Im besten Fall entsteht ein sicherer Raum, in dem junge Menschen sich selbst, andere und die Gesellschaft, in der sie leben, mitfühlender wahrnehmen, Klischees und Vorurteile hinterfragen und mit eigenen Ideen zum gesellschaftlichen Wandel beitragen.
Wie gelingt es, Spielfreude, Kreativität und Inspiration zu erhalten, wenn man komplexe und vielleicht auch düstere Inhalte thematisiert?
Wenn ich es schaffe, eine Arbeitsatmosphäre zu kreieren, einen Denkraum, einen „Playground“, wo alle gleichberechtigt miteinander nach Lösungen suchen, wo Visionen entwickelt werden dürfen und wo das Ergebnis offen ist. Ein „Spielplatz“ im wahrsten Sinne des Wortes, wo erst einmal alles möglich ist und es nicht um die Frage nach „richtig oder falsch“ geht, sondern um einen kreativen, inspirieren Ort des Miteinanders, des Ausprobierens und Aushandelns.