„Kultur öffnet Welten“
Prof. Dr. Ivo Züchner lehrt am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Ein Gespräch mit dem Jurymitglied von „Kultur macht stark“ über die neuen Schwerpunktthemen der dritten Förderphase.
Der aktuelle Bildungsbericht zeigt, dass Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen nach wie vor stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses abhängen. Welche Umstände machen es besonders schwer, einen besseren Zugang zu Bildung zu bekommen?
Auch in unseren Forschungsprojekten ist auffallend, dass coronabedingt die Schere zwischen Kindern und Jugendlichen mit einem leichteren Zugang zu Bildungsangeboten und jenen mit einem erschwerten größer geworden ist. Der Bildungsbericht zeigt, dass soziale Herkunft stärker als alle anderen Einflüsse, wie zum Beispiel Migration, Bildungswege von Kindern und Jugendlichen prägt. In den letzten Jahren zeigt sich: Das System Schule wandelt sich nicht wirklich. Als dann pandemiebedingt andere Bildungsangebote weggebrochen sind, hat der familiäre Background an Bedeutung noch einmal zugenommen.
Inwieweit können kulturelle Bildungsangebote dazu beitragen, die Bildungschancen dieser Kinder und Jugendlichen (in Risikolagen) zu verbessern?
Außerschulische Angebote können sicherlich nicht alles auffangen. Der Ansatz des Ganztags ist in Deutschland noch immer eher ein freizeitorientierter: Es gibt auf der einen Seite die schulischen Fächer, auf der anderen Seite freiwillige Angebote am Nachmittag, die teilweise wieder sozial selektiv wahrgenommen werden. Oft gibt es noch keinen Ansatz der Verzahnung von außerschulischer Bildung und Schule. Auf dem direkten Weg werden Schülerinnen und Schüler durch kulturelle Bildung nicht automatisch besser in Mathe und Deutsch. Doch kulturelle Bildungsangebote können dazu beitragen, dass Kinder ein neues Verhältnis zu Schule, Lernen und sich selbst bekommen. Und das strahlt auf andere Bereiche aus. „Kultur macht stark“-Projekte können die Unterschiede in der Gesellschaft nicht wegwischen. Aber sie ermöglichen Kindern, die diese Zugänge sonst nicht hätten, erweiterte Erfahrungsmöglichkeiten und andere Perspektiven. Und das kann durchaus Bildungsungleichheiten abfedern. In diesem Zusammenhang mag ich die Aussage: „Kultur öffnet Welten“. Wirkungsstudien wie „Jugendkunstschulen – Eine Studie zu den Wirkungen von Angeboten der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit“ (JuArt), die wir gemeinsam mit dem Bundesverband der Jugendkunstschulen durchgeführt haben, zeigen, dass außerschulische Angebote der kulturellen Bildung Kindern Möglichkeiten eröffnen, sich mit sich selbst anders zu beschäftigen. Sie steigern messbar wichtige Softskills wie das Empathieempfinden, das Selbstbewusstsein und das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das Reflexions- und Kooperationsvermögen sowie die Kritikfähigkeit.
Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Ganztag und Digitalisierung in der kulturellen Bildung. Beides sind Entwicklungsthemen in der nächsten Programmphase von „Kultur macht stark“ ab 2023. Inwiefern liegen hier Chancen für einen besseren Zugang zu Bildung?
Wir haben uns Schulen angesehen, in denen eine gute Vernetzung von Schule und kulturellen Bildungseinrichtungen gelingt. Wenn die Schulleitung von einem Thema überzeugt ist und das in alle Bereiche der Schule trägt, kann die kulturelle Bildung hier unterstützen, um die Schule als Lernort zu verbessern. Dazu müssen sich alle Kooperationspartner an einen Tisch setzen und konzeptionell ihre Ziele festlegen. Das ist dann nicht pauschal der Instrumentenunterricht am Nachmittag, sondern das können Ziele sein, wie Verbesserung der Teamfähigkeit der Kinder oder ein besseres Demokratieverständnis.
Beim Thema Digitalität ergeben meine Beobachtungen kein einheitliches Bild. Viele Akteure haben in Pandemiezeiten kreative Wege gefunden, um Bildung zu vermitteln. Sie haben dafür sehr engagiert Ressourcen, Infrastruktur und Wissen aufgebaut. Das konnte stellenweise einiges auffangen. Wir sehen aber auch, wie wichtig wieder Präsenzveranstaltungen sind und dass nicht alles auf digitalem Wege vermittelbar ist. Digitale Tools können sicherlich sehr kreativ und bereichernd eingesetzt werden und üben auf die Kinder und Jugendlichen eine große Anziehungskraft aus.
Worin genau sehen Sie den Benefit für die Kinder und Jugendlichen, wenn Angebote der kulturellen Bildung mit dem schulischen Ganztag verzahnt werden? Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Die „Kultur macht stark“-Projekte an Schulen bieten neue Möglichkeiten, Kindern andere Perspektiven und Sichtweisen auf sich und die Welt zu eröffnen. Wichtig ist bei der Zusammenarbeit der Ganztagsschulen mit beispielsweise Musikschulen oder Jugendkunstschulen eine gemeinsame konzeptionelle Planung, die Koordination mit allen Lehrkräften und ein wertschätzender Austausch zwischen externen Partnern und Schule. Die Kinder, mit denen wir an solchen Schulen gesprochen haben, haben einen anderen Blick auf ihre Schule: Sie haben Spaß an Lernen und Kultur. Sie erfahren Schule dann auch als Ort, wo sie sich ausprobieren können und wo ihre Stärken wertgeschätzt werden.
Das Zusammenspiel mit kommunalen Strukturen ist ein weiterer Schwerpunkt in der Weiterentwicklung des Programms „Kultur macht stark“. Welche Rolle kann die kulturelle Bildung in der Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften spielen?
Die Programmpartner von „Kultur macht stark“ sind starke Partner in der kommunalen Bildungslandschaft. Sie bieten Infrastruktur und Ressourcen. Erfolgreich sind diese Kooperationen vor allem dann, wenn sie auf langfristige und nachhaltige Netzwerke ausgelegt sind. Schon in den 2000er-Jahren hat sich herausgestellt, wie wichtig Bildungsplanungsstellen auf kommunaler Ebene sind. Projekte von „Kultur macht stark“ können einen wertvollen Samen setzen, der weiterwachsen kann.
Wie ist es um die Unterstützung in strukturschwachen, ländlichen Räumen – einem vierten Entwicklungsbereich in „Kultur macht stark“ – bestellt?
Im ländlichen Raum ist die Zahl der Kooperationspartner geringer, es gibt weniger Träger der kulturellen Bildung und damit weniger Angebote. Auch das kommunale Bildungsmanagement ist in den größeren Städten besser aufgestellt. Neben sozialer Benachteiligung ist es im ländlichen Raum also grundsätzlich schwieriger, einen Zugang zu neuen Bildungsräumen zu gestalten. Gleichzeitig sind auch in kleineren Gemeinden viele Vereine engagiert mit einer großen Unterstützung von ehrenamtlichen Hilfskräften tätig. Aber solche Vereinsstrukturen haben natürlich nicht die gleichen Ressourcen wie ein großer Träger in einer größeren Stadt. Wir brauchen auch politisch eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den ländlichen Raum, wenn es um das Thema disparater Teilhabe geht.