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„Kinder wissen am besten, was es braucht, damit sie sich sicher fühlen“

Wie können Einrichtungen der kulturellen Bildung Kinder und Jugendliche vor (sexualisierter) Gewalt schützen? Das erläutert Anna Müller von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. – und empfiehlt Tipps und Unterstützungsangebote.

Frau mit dunkelbraunem, halblangem Haar und grau-blauen Augen lächelt freundlich in die Kamera. Sie ist Anfang bis Mitte dreißig und trägt ein schwarzes Shirt.
Anna Müller © Uwe Schinkel, BKJ

Frau Müller, bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. unterstützen Sie lokale Träger und Verbände der kulturellen Bildung dabei, Konzepte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen zu entwickeln. Was zeichnet ein gutes Schutzkonzept aus?

Die Grundlage eines guten Schutzkonzepts ist eine umfassende Risikoanalyse. Eine solche Analyse hilft Einrichtungen dabei, konkrete Situationen zu identifizieren, in denen Formen von Gewalt und insbesondere sexualisierte Gewalt auftreten können. Anschließend gilt es, alle Akteurinnen und Akteure in die Konzeptentwicklung einzubeziehen – also Hauptamtliche, Ehrenamtliche, Honorarkräfte, Leitungsebene und insbesondere die Kinder und Jugendlichen selbst. Denn Kinder und Jugendliche sind Expertinnen und Experten in eigener Sache und wissen am besten, was es braucht, damit sie sich sicher fühlen.
Ein Schutzkonzept beschreibt zudem, wie potenzielle Täterinnen und Täter vorgehen und wirkt präventiv, damit es gar nicht erst zu einer Tat kommt. Unverzichtbar ist ein Handlungsleitfaden, der Maßnahmen in Verdachtsfällen oder bei vorliegender sexualisierter Gewalt festhält und interne sowie externe Ansprechpersonen benennt.

Worauf kommt es an, damit die Umsetzung eines Schutzkonzeptes in der Praxis gelingt?

Ein Schutzkonzept ist immer Ausdruck der gemeinsamen Haltung einer Einrichtung. Sein Gelingen hängt davon ab, ob eine Einrichtung bereit ist, die eigene Organisationsweise und Struktur zu hinterfragen und alle beteiligten Akteurinnen und Akteure mitzunehmen. Statt kurzfristiger Pauschallösungen ist ein auf die Einrichtung abgestimmter, langfristiger Prozess gefragt. Dafür braucht es ausreichend personelle und zeitliche Ressourcen. Mit der Verabschiedung eines Konzepts ist die Arbeit aber nicht abgeschlossen: Ein Schutzkonzept muss lebendig sein. Es muss regelmäßig auf seine Aktualität geprüft werden. Denn nicht nur das Wissen um Formen sexualisierter Gewalt wächst stetig an – auch Bildungseinrichtungen verändern sich. Neue inhaltliche Schwerpunkte, Methoden und Zielgruppen erfordern entsprechend angepasste Schutzkonzepte.

Was raten Sie Akteuren der kulturellen Bildung, die vor der Entwicklung eines eigenen Schutzkonzepts stehen? Wie sollten sie diesen Prozess angehen?

Wichtig ist, sich Unterstützung von außen zu holen, etwa durch Beratungsstellen oder ausgebildete Fachkräfte. Mit unserem Projekt „Start2Act“, gefördert durch die Europäische Union, bieten wir kostenfreie Fortbildungsmaßnahmen zur Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt – sowohl für Fortgeschrittene als auch für Fachkräfte ohne Vorerfahrung. Wir helfen Einrichtungen auch bei der Suche nach Beratungsstellen und beim Aufbau eines Netzwerks. Das machen wir insbesondere in ländlichen Räumen, wo Angebote bisher nicht in der Breite vorhanden sind. Außerdem vergeben wir Fördergelder für Präventionsprojekte und Sensibilisierungsmaßnahmen an Träger und Vereine der kulturellen Bildung.

Wie können Kinder und Jugendliche gestärkt werden, ein Gefühl für ihre Grenzen zu entwickeln und ihrem Bauchgefühl zu vertrauen?

Dazu benötigen Kinder und Jugendliche vor allem Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Das entwickeln sie durch Möglichkeiten der Teilhabe: Wenn sie in Projekten mitentscheiden können, wenn sie sagen dürfen, was sie stört und was ihnen gefällt. Dann fällt es ihnen auch leichter, Grenzüberschreitungen anzusprechen. Kulturelle Bildung – zum Beispiel Theaterprojekte zum Thema persönliche Grenzen – ist ein besonders geeignetes Mittel, diese Fähigkeit zu unterstützen. Im Rahmen von „Künste öffnen Welten“ im Gesamtprogramm von „Kultur macht stark“ fördert die BKJ Projekte mit partizipativen Ansätzen. Das ist eine wichtige Grundlage dafür, um Kinder und Jugendliche zu stärken.

Wie sollten Fachkräfte reagieren, wenn der Verdacht auf einen Verstoß gegen den Schutz von Kindern und Jugendlichen vorliegt?

Idealerweise ist das Vorgehen für einen solchen Verdachtsfall in dem Schutzkonzept geregelt.

Prinzipiell gilt aber: Bei einem Verdachtsfall ist es wichtig Ruhe zu bewahren, nicht überstürzt zu reagieren und sich trotzdem zeitig Unterstützung zu holen, um die Situation einschätzen und handeln zu können. Über das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch lassen sich gezielt lokale Beratungsstellen mit verschiedenen Schwerpunkten suchen. Das Portal bietet auch eine Telefonberatung unter der Nummer 0800-2255530 an. Außerdem können sich Fachkräfte beim örtlichen Jugendamt beraten lassen: Es besteht ein Rechtsanspruch auf kostenfreie und anonymisierte fachliche Beratung in Kinderschutzfragen.

Digitale Medien gewinnen in der kulturellen Bildung immer mehr an Bedeutung. Was bedeutet das für den Schutz von Kindern und Jugendlichen? Worauf kommt es beim Schutz im digitalen Raum an? 

Sexualisierte Gewalt und Grenzverletzungen gegen Kinder und Jugendliche sind ein großes Problem im Internet, beispielsweise missbräuchliches Sexting, Cybergrooming oder Cybermobbing. Junge Menschen sind besonders gefährdet, denn für sie sind die Grenzen zwischen On- und Offline noch fließender als für Erwachsene. Fachkräfte in der kulturellen Bildung sollten sich daher regelmäßig zu Digitalisierungsthemen fortbilden. Pauschale Verbote oder eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der digitalen Welt führen aber nicht weiter. Erst 2023 hat die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung daher das dachverbandliche Schutzkonzept mit Inhalten zum digitalen Raum überarbeitet. Denn digitale Medien bieten Kindern und Jugendlichen auch Räume der Selbstermächtigung und wirken identitätsstiftend. All das stärkt ihre Möglichkeiten, sich vor sexualisierter Gewalt zu schützen.

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Anna Müller arbeitet seit Anfang 2023 als Fortbildungsreferentin und Projektleiterin des Projektes „Start2Act“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. Von 2020 bis 2022 war sie Referentin für Jugendarbeit bei der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Thüringen e.V. sowie von 2022 bis 2023 Projektleiterin beim Kölner Jugendring e.V.