„Kinder haben ein Recht auf kulturelle Bildung“
Seit 1992 ist in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft, die jungen Menschen besondere Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte zusichert. Anne-Charlotta Dehler vom Deutschen Kinderhilfswerk erklärt, wie Erwachsene die Kinderrechte im Alltag stärken können und was kulturelle Bildung dazu beiträgt.
Frau Dehler, Sie arbeiten bei der Fachstelle Kinderrechtebildung des Deutschen Kinderhilfswerkes. Welchen Stellenwert nimmt kulturelle Bildung bei den Kinderrechten ein?
In der UN-Kinderrechtskonvention (zur kindgerechten Übersetzung) gibt es zwar kein Recht auf kulturelle Bildung im Wortlaut. Laut der Konvention haben Kinder aber nach Artikel 31 das Recht auf Freizeit, Spiel und Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben. Dazu zählen auch Angebote der kulturellen Bildung. Neben dem Erwerb von Wissen und Fähigkeiten trägt kulturelle Bildung zur Entfaltung der Persönlichkeit bei, was zur Umsetzung von Artikel 29 der Kinderrechtskonvention beiträgt. Auch bietet es Kindern Räume, eine eigene Meinung zu entwickeln und auszudrücken. Das sind alles wichtige Aspekte der Kinderrechte. Aus diesem Zusammenspiel ergibt sich das Recht auf kulturelle Bildung.
Nicht mal 20 Prozent der Kinder in Deutschland behaupten, sich gut mit den Kinderrechten auszukennen. Wie kann das Wissen um Kinderrechte gefördert werden?
Das Wissen um die Kinderrechte sollte fester Bestandteil der Ausbildungsinhalte für Fachkräfte in Bildungseinrichtungen sein. Als Deutsches Kinderhilfswerk bieten wir verschiedene Materialien an, um über die Kinderrechte aufzuklären. Aktuell haben wir etwa ein Seminarkonzept zur kinderrechtebasierten Demokratiebildung in Fachschulen entwickelt. Auch die kulturelle Bildung ist eine Möglichkeit, sich mit den Kinderrechten auseinanderzusetzen, ob beim Theaterspielen, Musikmachen oder auf der Leinwand.
Wie können Kinder gestärkt werden, ihre eigenen Rechte zu artikulieren und einzufordern?
Kinder sollten frühzeitig darüber aufgeklärt werden, dass sie Trägerinnen und Träger von Rechten sind. Die Verantwortung dafür tragen sowohl Eltern als auch Fachkräfte in Bildungseinrichtungen. Hilfreich sind dabei Materialien wie zum Beispiel die Kinderrechtskonvention in kindgerechter Sprache. Wichtig ist darüber hinaus aber, die Kinderrechte wirklich zu leben, also Kinder in Kitas, Schulen oder zu Hause ernst zu nehmen und nicht über sie hinweg zu entscheiden. Für Erwachsene bedeutet das, ein Stück ihrer Macht abzugeben. Auch eine Verankerung der Kinderrechte ins Grundgesetz würde die Bedeutung der Kinderrechte hervorheben und den Staat stärker in die Pflicht nehmen, für eine gerechte Gesellschaft und gleiche Entwicklungschancen für alle Kinder zu sorgen.
Wie können Projekte der kulturellen Bildung helfen, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Zugang zu Kinderrechten gestärkt werden?
Indem die Kinderrechte in den Projekten thematisiert werden. Das kann zum einen bedeuten, explizit über bestimmte Kinderrechte zu sprechen und darüber zum eigenen künstlerischen Ausdruck zu finden. Zum anderen, die Kinderrechte strukturell umzusetzen, also Kindern Zugänge zu ermöglichen und sie an Prozessen und Entscheidungen sowie der Projektgestaltung zu beteiligen.
Können Sie Beispiele für Projekte der kulturellen Bildung nennen, die sich speziell mit Kinderrechten beschäftigen?
Bei den vom Deutschen Kinderhilfswerk geförderten Projekten achten wir darauf, dass ein Konzept zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen deutlich wird. 2023 haben wir ein Projekt gefördert, in dem sich Jugendliche mit dem Roman „Vorbei ist eben nicht vorbei“ von Kirsten Boie beschäftigen. Der Roman befasst sich auch mit der Zeit des Nationalsozialismus. Auf dieser Grundlage haben die Jugendlichen ein eigenes Theaterstück auf die Bühne gebracht, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus zu setzen. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext berührt auch Kinderrechte wie den Schutz vor Diskriminierung oder das Recht auf Gedanken- und Religionsfreiheit. Häufig sind Projekte aber zu sehr aus der Erwachsenenperspektive gedacht, etwa wenn gezielt auf ein bestimmtes Produkt hingearbeitet werden soll und wenig Raum für die Bedürfnisse und Ideen der Kinder bleibt. Solche Projekte fördern wir in der Regel nicht.
Das Wissen um die Kinderrechte und der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen braucht es dazu gute Konzepte. Was ist aus Ihrer Sicht bei solchen Konzepten zu beachten?
In erster Linie sind hier ganz klar Erwachsene in der Pflicht, aufmerksam zu sein und das Wohl des Kindes zu schützen. Jede Organisation, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, sollte ein aktuelles Kinderschutzkonzept vorlegen. Die Kinderrechte sind eine Art präventiver Kinderschutz. Kinder, die über ihre Rechte aufgeklärt sind und bestärkt werden, ihre Meinung zu äußern, können sich auch besser schützen. Kinder zu ermutigen, bestimmte Vorfälle anzusprechen und sich Gehör zu verschaffen, ist jedoch nur eine Seite eines wirksamen Kinderschutzes. Auf der anderen Seite braucht es Anlaufstellen in den Institutionen, wie etwa Vertrauenspersonen. Ein Anfang ist aber auch schon die Einrichtung eines anonymen Kummerkastens.
In Ihrem Vortrag „Das Kinderrecht auf kulturelle Bildung" bezeichnen Sie kulturelle Bildung als eine Form der Demokratiebildung. Was genau meint das?
Kulturelle Bildung erfordert eine partizipative Grundhaltung. Kinder und Jugendliche lernen dabei in einem geschützten Rahmen, sich mit unterschiedlichen Meinungen auseinanderzusetzen und Kompromisse zu schließen. Über die Vielfalt an kulturellen Ausdrucksformen erkunden Kinder ihren Zugang zur Welt und entwickeln eigene Positionen. Auf diese Weise fördert kulturelle Bildung auch den Umgang mit gesellschaftlicher Diversität. Denn bei der kreativen Arbeit lassen sich unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten als Ressource entdecken.