„Aufmerksam sein und nachfragen – mehr als einmal“
Kinder und Jugendliche einbeziehen und eine Kultur der Transparenz pflegen – das ist ein Schritt zum Schutz vor sexueller Gewalt. Worauf Einrichtungen darüber hinaus achten sollten und welche Fortbildungen sie empfiehlt, erklärt Präventionsexpertin Ulli Freund.
Frau Freund, Sie sind Referentin im Arbeitsstab der Unabhängige Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und Expertin für Schutzkonzepte zur Prävention von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Wie genau ist sexuelle Gewalt definiert?
Als sexuelle Gewalt gilt jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind oder Jugendlichen gegen dessen Willen vorgenommen wird und der die betroffene Person aufgrund ihrer körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit gar nicht wissentlich zustimmen kann. Bei Kindern unter 14 Jahren geht das Gesetz von einer grundsätzlichen Unterlegenheit aus, sodass es gar nicht auf die Frage des Willens ankommt. Entscheidend ist: Es gibt hier keine sexuellen Handlungen auf Augenhöhe, sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten. Täterinnen und Täter nutzen eine Machtposition aus, die Erwachsene gegenüber Minderjährigen strukturell immer einnehmen.
Kulturelle Bildung möchte dagegen Teilhabe stärken. Sie bietet das Potenzial, Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen abzubauen. Hilft das beim Schutz vor sexueller Gewalt?
Manche Machtgefälle, wie zum Beispiel das zwischen Erwachsenen und Kindern, lassen sich niemals vollständig aufheben. Einrichtungen können Kinder und Jugendliche aber davor schützen, dass Machtgefälle ausgenutzt werden. Dabei ist Partizipation das richtige Instrument. Konsequent umgesetzt bedeutet das, Kinder und Jugendliche selbst in die Entwicklung von Schutzkonzepten einzubeziehen. Die Voraussetzung dafür ist eine umfassende Aufklärung über sexuelle Gewalt.
Die Entwicklung eines Schutzkonzepts gegen sexuelle Gewalt beginnt mit einer Risikoanalyse. Auf welche Risikofaktoren sollten Einrichtungen dabei besonders achten?
Personalverantwortliche sollten sich genau über alle beteiligten Personen informieren. Bei Neueinstellungen, auch von Ehrenamtlichen, reicht es eben nicht, nur ein erweitertes Führungszeugnis einzuholen. Zudem sollten sie schon im Bewerbungsverfahren signalisieren, dass sie Wert auf Kinderschutz legen, etwa indem sie Schutzkonzepte oder Verhaltenskodexe aktiv ansprechen. Zweitens sollte eine gute Risikoanalyse diejenigen Kinder und Jugendlichen in den Blick nehmen, die etwa durch Fluchterfahrungen oder Beeinträchtigungen besonders vulnerabel sind. Drittens geht es darum, potenziell gefährliche Situationen zu identifizieren wie zum Beispiel eins-zu-eins-Situationen im Musikunterricht oder Umkleidesituationen. Das Thema Abhängigkeit gehört ebenso in die Risikoanalyse: Wo verstärken sich Machtgefälle, etwa wenn es um Entscheidungen über Bühnenauftritte geht. Um die Macht Einzelner einzuschränken, könnten solche Entscheidungen etwa partizipativ und demokratisch gestaltet werden, zumindest von mehreren Verantwortlichen getroffen werden.
Einrichtungen im Bereich der kulturellen Bildung haben häufig bereits Konzepte zu ihrer pädagogischen Haltung entwickelt. Können Schutzkonzepte dort andocken?
Pädagogische Konzepte, eine Kultur der Transparenz, der Fehlerfreundlichkeit und Partizipation zahlen auf Schutzkonzepte ein. Das zu erkennen ist Teil einer Potenzialanalyse. Niemand fängt bei Null an – viele Bestandteile von Schutzkonzepten sind in Einrichtungen der kulturellen Bildung gelebter Alltag. Einrichtungen sollten sich aber bewusst sein, dass jede noch so fortschrittliche Haltung keine Schutzgarantie bietet. Sexuelle Gewalt kann überall geschehen und ein wirksames Schutzkonzept muss davon ausgehen, dass sie von allen beteiligten Personen ausgeübt werden kann.
Was raten Sie Führungskräften in Einrichtungen, um eine präventive Kultur zu stärken und die Mitarbeitenden zu sensibilisieren?
Sie sollten mit gutem Vorbild vorangehen und in Schutz investieren – vor allem in Fortbildungen durch externe Fachkräfte. Wichtig ist, die besondere Dynamik sexueller Gewalt zu verstehen: Mit welchen Strategien Täter und Täterinnen vorgehen, wie Kinder und Jugendliche Übergriffe erleben und warum das schützende Umfeld – Eltern, Kolleginnen und Kollegen – so wenig merkt.
Welche Fort- und Weiterbildungsangebote können sie empfehlen?
Die erste Adresse für Fortbildungsangebote sind die spezialisierten Fachberatungsstellen, die sich über das Hilfeportal Sexueller Missbrauch recherchieren lassen. Eine effektive Methode zur Risikoanalye ist es, sich systematisch in potenzielle Tatpersonen hineinzuversetzen. Diese Art der Analyse „mit den Augen des Täters“ ist sehr erhellend – Material dazu bietet die Arbeitshilfe Institutionelles Schutzkonzept des Erzbistums Berlin.
Auch digitale Fortbildungen nehmen immer mehr zu. Als UBSKM haben wir in Kooperation mit den Kultusbehörden der Länder ein sogenanntes Serious Game entwickelt: „Was ist los mit Jaron?“, ein kostenloser, browserbasierter Online-Kurs. Primäre Zielgruppe sind Lehrkräfte an Schulen, das Angebot eignet sich aber auch für Personal der kulturellen Bildung. Das Spiel ist betroffenensensibel konzipiert und vermeidet Triggerpunkte. Viele Kinder und Jugendliche erleben sexuellen Missbrauch und finden keine Hilfe, weil niemand auf sie aufmerksam wird – das haben die Betroffenenberichte der vergangenen Jahre gezeigt. Doch genau darauf kommt es als Lehrkraft an: genau hinzuschauen, auf Kinder und Jugendliche zuzugehen und nachzufragen – und das mehr als einmal.