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Musik baut Brücken zwischen unterschiedlichen Lebenswelten

Töne erklingen, Rhythmen werden ausprobiert und auch der eigene Körper wird zum Instrument. Über Bodypercussion entdecken Kinder und Jugendliche mit und ohne Handicap im „Schall&BauchOrchester“ in Chemnitz die Freude an der Musik.

Im „Schall&BauchOrchester“ treffen Kinder und Jugendliche zusammen, die sich ohne das durch „Kultur macht stark“ geförderte Projekt mutmaßlich niemals kennenlernen würden. Die Musikpädagogen Mathis Stendike und Jan Heinke musizieren mit 30 Schülerinnen und Schülern im Alter von acht bis 14 Jahren. Die eine Hälfte besucht das Zentrum zur Lernförderung „Johann-Heinrich Pestalozzi“ und die andere Hälfte den „Terra Nova Campus – die   Entdeckerschule“, ein Förderzentrum für Kinder und Jugendliche mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Weitere Bündnispartner sind die Städtische Musikschule Chemnitz, bei der organisatorisch die Fäden zusammenlaufen, sowie die Sächsische Mozart-Gesellschaft e. V., die ihr Netzwerk zur Verfügung stellt und einen kurzen Draht gewährleistet, etwa wenn das „Schall&BauchOrchester“ an Musikveranstaltungen teilnimmt

Skepsis und Vorurteile abbauen

Nach den Sommerferien 2019 startete die Bildung des „Schall&BauchOrchesters“. Anfangs arbeiteten die Musikpädagogen mit den jeweiligen Gruppen aus den beiden Förderzentren allein. Im Laufe der Monate wurden die beiden Gruppen dann zu einer zusammengefügt, um einen gemeinsamen Auftritt vorzubereiten. Für Mathis Stendike und Jan Heinke war es spannend zu beobachten, wie die Gruppen zusammenwuchsen. „Sie kommen aus unterschiedlichen Welten“, beschreibt Mathis Stendike. „Obwohl die beiden Schulen nur gut 500 Meter voneinander liegen, könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Die Teilnehmenden mit Behinderungen aus dem Terra Nova Campus werden sehr gut gefördert. Die Kinder und Jugendlichen aus der Lernförderschule sind sehr auf sich allein gestellt, erfahren nur wenig Unterstützung aus dem Elternhaus und werden im Alltag nicht als förderbedürftig wahrgenommen. Beide Gruppen haben einander viel zu geben – nachdem es gelungen ist, Skepsis und Vorurteile abzubauen.“

Der eigene Körper wird zum Instrument

Skepsis und Vorurteile abbauen – das gelingt spielerisch durch die Musik, sie baut Brücken zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten. Die passionierten Musiker Mathis Stendike und Jan Heinke eröffnen den Teilnehmenden ein musikalisches Universum, indem sie ihnen die Vielfalt der Instrumente vermitteln. Hornist Mathis Stendike war Ensemblemitglied in der Erzgebirgischen Philharmonie, bevor er vor einigen Jahren lieber als freier Musiker tätig sein wollte. Saxofonist Jan Heinke ist ebenfalls freischaffender Musiker. Mit Hingabe entwickelt er neue Instrumente, unter anderem hat er das Stahlcello erfunden. Auch das „Schall&BauchOrchester“ baut Instrumente. Für Trommeln werden zum Teil Bausätze verwendet. „Die haben den Vorteil, dass man dafür mehr als zwei Hände benötigt und so ergibt sich Teamwork ganz von alleine“, erläutert Mathis Stendike.  Ansonsten werden aber auch Naturmaterialien eingesammelt: Steine, Nüsse und Zapfen etwa eignen sich prima als Rasseln.

In jedem Schuljahr sind die Gruppen unterschiedlich zusammengesetzt und je nach den Bedürfnissen der Teilnehmenden variieren die beiden Musiker ihre Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. Immer aber lassen sie Töne erklingen, Rhythmen werden ausprobiert und vor allem wird auch immer der eigene Körper zum Instrument. Atem- und Sprechtechniken erlauben den Teilnehmenden, den eigenen Körper besser kennenzulernen. Über Singen und Bodypercussion – die Klangerzeugung mit dem eigenen Körper unter Zuhilfenahme von Händen, Füßen, Fingern und Mund – entdecken sie die Freude an der Musik. „Die Schülerinnen werden motiviert und herausgefordert: zum Improvisieren und Probieren, zum gezielten Agieren“, so Mathis Stendike.

Die Kinder und Jugendlichen des „Schall&BauchOrchesters“ in Chemnitz entdecken Töne und Klangerzeugung mit dem ganzen Körper.
Die Kinder und Jugendlichen des „Schall&BauchOrchesters“ in Chemnitz entdecken Töne und Klangerzeugung mit dem ganzen Körper. © Schall&BauchOrchester

Das Hören und die Wahrnehmung schärfen

In Zeiten vor der Coronapandemie haben die Musiker darauf hingearbeitet, mit den Kindern und Jugendlichen eine gemeinsame Fahrt in eine Jugendherberge im Erzgebirge zu organisieren. „Das ist aus unterschiedlichen Gründen recht aufwendig, denn wir benötigen Spezialfahrzeuge zum Transport der jungen Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sowie teilweise 1:1-Betreuung, schildert Mathis Stendike. a manche Teilnehmende schwerste Behinderungen haben, steht ihnen eine persönliche Assistenz zur Seite und diese betreuende Person kommt dann auch mit auf diese Fahrt. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gehören ebenfalls zur Begleitung. „Aber dieser Aufwand lohnt sich immer, denn die Teilnehmenden profitieren davon, wenn sie in einem anderen Umfeld sind. Zudem wächst die Gruppe zusammen, denn alle packen mit an, wenn ein Rollstuhl durch den Wald zu schieben ist. Auch der Instrumentenbau gelingt nur gemeinsam, da braucht man mehr als zwei Hände.“ Im Jahr 2020 musste die Fahrt Corona-bedingt abgesagt werden, auch in diesem Jahr ist sie wahrscheinlich noch nicht zu realisieren.

So sorgen die beiden Musiker aktuell vor Ort für Naturerlebnisse. Sie ermuntern die Teilnehmenden dazu, ihre Mobiltelefone aus der Hand zu legen und die Klänge der Natur zu entdecken. „Uns ist auch das Hören wichtig, die Wahrnehmung der Umwelt. Im Projektnamen steht „Schall“ für das Hören, das Finden und Einordnen von Klängen – für all das, was auf die Kinder und Jugendlichen einströmt oder die Klänge, die sie selbst erzeugen. „Bauch“ steht für die Empfindsamkeit, die Sensibilität des eigenen Körpers. „Orchester“ schließlich steht für das Zusammenspiel von Menschen, von Klängen, von unterschiedlichen Eindrücken, von Abläufen und das ganz praktische musikalische Zusammenspiel unserer Gruppen, also Teil eines Ganzen zu sein“, schildert Mathis Stendike.

Teilnehmende geben sich selbst Regeln

Sein Kollege und er verstehen sich als „Möglichmacher“. Sie schieben Prozesse an und lassen die Teilnehmenden möglichst viel selbst entscheiden. So etwa geben sich die Kinder und Jugendlichen die Regeln für das Miteinander selbst vor. Auch wissen die beiden Musiker nicht im Voraus, welche Art von Behinderung manche der Teilnehmenden haben. „Wir begegnen allen gleich und finden selbst heraus, wer was kann. Diese Offenheit ermöglicht es allen, Neues auszuprobieren und ihre Grenzen zu überwinden. Die Teilnehmenden leisten Erstaunliches und oft sind sie überrascht, weil sie es sich selbst nicht zugetraut haben“, hat Mathis Stendike beobachtet.

Wenn momentan auch Reisen pandemie-bedingt nicht möglich sind, gab es im vergangenen Jahr immerhin das Highlight eines festlichen Auftritts.  Das „Schall&BauchOrchester“ war beim „Traumkonzert 2020“ in der Chemnitzer Stadthalle dabei. Bei der Traumkonzertreihe musizieren junge Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Handicap gemeinsam mit Mitgliedern der Robert-Schumann-Philharmonie. Auch in diesem Jahr ist ein festlicher Abschlussauftritt geplant.

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Im Bündnis haben sich folgende Partner zusammengeschlossen. Bei der Städtischen Musikschule Chemnitz laufen organisatorisch die Fäden zusammen. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus zwei unterschiedlichen Förderschulen. Kinder und Jugendliche mit körperlichen und geistigen Behinderungen besuchen den „Terra Nova Campus - Die Entdecker“, im Förderzentrum „Johann Heinrich Pestalozzi“ geht es um die Lernförderung. Die Sächsische Mozart-Gesellschaft e. V. agiert als Medienpartner und stellt ihr Netzwerk zur Verfügung, wenn Auftritte zu organisieren sind.