Mit offenen Augen durchs Westparkviertel
Aachener Grundschulkinder erobern sich ihren Bezirk. Die Jugendkunstschule in der Bleiberger Fabrik initiierte das Projekt „AUGENAUF im Westparkviertel“, bei dem Kinder Ideen für Aktionen entwickeln, um ihre Heimat besser kennenzulernen.
Als die Kinder auf dem Kirchturm von Sankt Jakob standen, sah Aachen auf einmal ganz anders aus: „‘Wo wohne ich?‘, fragten sie sich und suchten nach Punkten, die sie kennen, wie dem Westpark“, erzählt Axel Jansen. Er ist Leiter der Jugendkunstschule in der Bleiberger Fabrik in Aachen. Diese ist neben der katholischen Grundschule Hanbruch und dem Altenheim Sankt Elisabeth einer der Bündnispartner des Projekts.
Die neun- und zehnjährigen Kinder aus dem Aachener Westparkviertel entdeckten in diesem Moment – in luftiger Höhe auf dem Kirchturm – ihre Heimat neu. Die Aktion war Teil des Projekts „AUGENAUF im Westparkviertel“, das in „Kultur macht stark“ gefördert wird. Bereits seit Juni 2018 ist das Bündnis aktiv, 2019 stellte die Jugendkunstschule erfolgreich einen Verlängerungsantrag, sodass es nun bis Juni 2022 weiterläuft.
Das Projekt schlägt den großen Bogen zwischen den Generationen, denn die Grundschulkinder der vierten Klasse erleben nicht nur ihren Heimatbezirk auf unerwartete Weise, sondern sie suchen auch nach Spuren der Vergangenheit und wenden sich dazu an die Seniorinnen und Senioren im Altenheim Sankt Elisabeth. Der Austausch mit ihnen ist leider durch die Coronapandemie seit langem kaum möglich. Die Kinder können das Pflegeheim bis heute nicht aufsuchen. „Aber sobald es geht, wollen wir den Kontakt wieder aufnehmen“, sagt Axel Jansen. „Die älteren Menschen hatten vor der Coronazeit einen Mega-Spaß daran, wenn eine Schulklasse gekommen ist und es quirliger wurde als es normalerweise in einem Altenheim ist.“ In Hanbruch und dem Westparkviertel leben junge Familien, alte Menschen, Studierende, auch Menschen mit Migrationsgeschichte. Auch die 14 bis 16 Kinder, die bei „AUGENAUF im Westparkviertel“ dabei sind, stammen aus ganz verschiedenen Familien, es gibt Kinder mit Migrationshintergrund, aus Familien mit geringem Einkommen und Kinder mit Behinderungen.
Im Westpark gab es einen Zoo
Ein gutes Beispiel dafür, was die Kinder alles erkundeten, ist die Wiederentdeckung des Zoos im Westpark. „Bis zum Ersten Weltkrieg hat dort ein zoologischer Garten existiert“, berichtet Axel Jansen. Als die Kinder das erfuhren, begannen sie sofort zu recherchieren: Wo war das Elefantengehege, wo waren die Bereiche für Reptilien und Schlangen? Die Pflegeheimbewohnenden halfen den Schülerinnen und Schülern, in die Vergangenheit einzutauchen. Die Älteren kannten die Straßen, die vor 30 Jahren existierten. Einige erinnerten sich noch an den genauen Verlauf der Zoomauern. „Die Kinder konnten dadurch das früher Dagewesene rekonstruieren“, erzählt Axel Jansen. Sie stellten anschließend Hinweisschilder im Park auf, die auf die Orte der einstigen Gehege hinwiesen. „Sie haben sich ihren eigenen Zoo erschaffen.“ Für ein paar Wochen blieben die Schilder stehen. „Als Vandalismus begann, haben wir sie weggenommen“, erzählt Axel Jansen.
Gullydeckel erforschen
Aha-Effekte sind ein wichtiges Element des Projekts. Sie setzten auch ein, als die Kinder die Gullydeckel im Bezirk betrachteten. „Sie bemerkten selbst, dass es verschiedene Varianten im Stadtteil gibt“, erzählt Axel Jansen. Daraufhin überlegten sie, woher die Unterschiede kommen, und machten dies zu einem Projekt. Doch es blieb nicht bei der Recherche. Zusammen mit der Produktdesignerin Angela Alvarez gestalteten sie T-Shirts mit den Abdrücken der Gullydeckel. Dafür bestrichen die Teilnehmenden die Deckel mit bunter Farbe und legten T-Shirts darauf.
Eine andere Idee war zu hinterfragen, wie der Stadtteil inklusiver werden könnte. Studierende der Landschaftsarchitektur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH Achen) überlegten gemeinsam mit den Kindern, wo es im Westpark Barrieren gibt. „Anschließend dachten die Kinder darüber nach, wie hinderlich diese für Menschen mit Gehhilfen sind“, berichtet Axel Jansen. Sie wünschten sich mehr Beleuchtung im Park und einen Bootsverleih, um einen Berührungspunkt mit dem Wasser zu schaffen. Die Studierenden zeichneten anschließend Pläne des Parks, die Vorschläge der Grundschulkinder und der jugendlichen Teilnehmenden enthielten, wie eine barrierefreie Gestaltung, Basketballplätze, ein schönes Café und eine Grillwiese.
Vom Thema Krieg zum Städtebau
Neben dem höchsten Punkt des Stadtteils – dem Kirchturm – wurde auch der niedrigste gesucht: ein Bunker aus dem zweiten Weltkrieg. „Anschließend haben die Kinder sich intensiv mit den Themen Krieg und Frieden auseinandergesetzt und dazu auch die Menschen im Altenheim interviewt.“ Viele Häuser wurden während des Zweiten Weltkriegs in Aachen zerbombt. Die Kinder überlegten, wie die Stadt mit diesen Häusern aussehen könnte – oder auch mit ganz anderen als denen, die nach dem Krieg gebaut wurden.
Ein Architekturhistoriker unterstützt
So führte bei dem Projekt „AUGENAUF im Westparkviertel“ eine Entdeckung zur anderen, eine Frage zur nächsten. Die Kinder wurden auf ihrem Weg von dem Architekturhistoriker und Stadtplaner Björn Schötten begleitet, der selbst im Viertel wohnt. „Er ist mit den Kindern durch den Stadtteil gegangen und hat ihnen Informationen zur Geschichte gegeben“, erzählt Axel Jansen.
Anregungen auch für Erwachsene
„Kern des Projekts ist es, sich den eigenen Stadtteil anzueignen“, erklärt Axel Jansen. Obwohl die Kinder im Westparkviertel aufgewachsen seien, würden sie viele Winkel nicht kennen. „Kaum eines der Kinder hatte zuvor den Stadtteil so intensiv erkundet oder sich mit der Vorgeschichte auseinandergesetzt. Die Kinder fragen sonst selten, was man in ihrer Umgebung verbessern könnte.“ Sofern die Corona-Lage es wieder zulässt, ist der Höhepunkt des Projekts die Abschlusspräsentation in der Schule – vor Eltern und Mitschülerinnen und Mitschülern – und in der örtlichen Stadtteilkonferenz. „Das ist für die Kinder ein großes Erlebnis, denn sie werden ernst genommen und erhalten viel Wertschätzung und Anerkennung“, berichtet Axel Jansen. In der Stadtteilkonferenz können die Kinder ihre Ideen an die Bürgerinnen und Bürger weitertragen. Dann machen vielleicht auch die Erwachsenen im Aachener Westparkviertel in Zukunft besser die Augen auf.