Kunstdetektive in Halle erkunden ihr Revier
Die gewohnte Umgebung neu entdeckt haben die Jungen und Mädchen vom Kunstprojekt „Drei Federstriche“. Einmal wöchentlich erkundeten sie die Stadt, entstanden sind Zeichnungen, Drucke, Aquarelle – und neues Selbstvertrauen bei den Teilnehmenden.
Was gehört zur Grundausstattung für Detektivarbeit? Klar, Sonnenbrille, Badetuch sowie Farbe und Pinsel. Zumindest wenn es um die Kunstdetektivinnen und -detektive vom Projekt „Drei Federstriche“ in Halle geht. 28 Kinder des Schulhortes August Hermann Francke nahmen von August 2019 bis Dezember 2020 an diesem ganz besonderen Kunstprojekt im Rahmen von „Kultur macht stark“ teil. Möglich gemacht haben das die drei Bündnispartner: das Kulturwerk des BBK Sachsen-Anhalt e.V., der Kinderhort August Hermann Francke (in Trägerschaft der Franckeschen Stiftungen) und das Kinderkunstforum e. V.
„Wir haben auf künstlerische Weise die Umgebung erkundet – oft, ohne dass die Kinder gemerkt haben, dass sie gerade Kunst machen“, erzählt Künstlerin und Projektleiterin Josefine Cyranka vom Kinderkunstforum. Der Hort liegt auf dem ehrwürdigen und idyllischen Gelände der Franckeschen Stiftungen im Herzen Halles. Kultur ist hier eigentlich an jeder Häusermauer greifbar. Es gibt eine historische Bibliothek und ein Museum, die beide außerordentliche Sammlungen beherbergen, eine Kapelle, die Universitätsmensa und eine Dachterrasse, die einen Überblick über die Altstadt bietet. „Kaum eines der teilnehmenden Kinder hatte vor dem Kurs einen dieser Orte hier auf dem Gelände besucht“, schildert die Projektleiterin.
Selbstvertrauen in die eigene Sichtweise entwickeln
Nach vielen Nachmittagen, an denen sie für das Projekt in den Franckeschen Stiftungen und der angrenzenden Altstadt auf künstlerische Erkundungstour gingen, kennen die Jungen und Mädchen nun sogar Details. Die farbigen Fenster der Ulrichskirche etwa. Die hat sich die Gruppe ganz genau angeschaut, bevor es daran ging, selbst bunte Fenster zu malen. Oder den Blick von der Dachterrasse des historischen Waisenhauses auf ihre Stadt. Auf jeder der Zeichnungen, die während des Projektes von der Stadt entstanden sind, ist eine ganz einzigartige Sicht auf Halle zu entdecken. Und genau darum geht es Josefine Cyranka und den anderen Aktiven im Bündnis: „Jeder von uns schaut anders auf die Dinge, sieht etwas anderes, ihm fällt etwas anders auf. Dazu möchten wir ermutigen. Es geht darum, Vertrauen in die eigene Sichtweise zu haben, in das eigene Entdecken und Erschaffen. Das stiftet auch Selbstvertrauen“, berichtet die Projektleiterin. Erschaffen haben die Kinder jede Menge. Ein ganzes Buch mit mehr als 70 Seiten ist entstanden. Es dokumentiert die Ausflüge der Gruppe und die Kunstwerke der Kinder. Stillleben sind dort zu sehen, alle vom gleichen Obstteller inspiriert und doch so verschieden. „Beobachtung der Unterschiede ist auch so etwas, was wir geübt haben“, erläutert die Künstlerin. So konnten die Kinder erkennen, dass Apfel nicht gleich Apfel ist. „Jeder muss anders gemalt werden, weil keiner gleich ist: Einer ist klein und grün, einer sommersprossig, einer hat dunkle Stellen.“
Japanischer Pinselstift trifft auf Kirschblüte
Auffällig ist, dass viele der im Projekt entstandenen Kunstwerke asiatisch anmuten. Kirschblüten sind dort zu sehen, Drachen in Rot, Orange und Gold, und pagodenförmige Gebäude. „Der Impuls kam von den Kindern“, erzählt die Projektleiterin. An einem der ersten Projekttage entdeckten sie eine Bambushecke und etwas später einen Drachen auf dem Logo eines asiatischen Supermarktes im Viertel. „Und daraufhin waren die Kinder dafür sensibilisiert und haben uns auf Kirschblüten oder chinesische Schriftzeiten aufmerksam gemacht.“ Also griffen die Erwachsenen das Interesse der Kinder auf. So wurde etwa begonnen, mit dem japanischen Pinselstift zu malen. Auch besondere Papiersorten, Stempeldruck und Aquarellfarben wurden im Kurs verwendet und waren für viele Kinder ganz neue Materialien – jenseits von den alltäglichen Bunt- und Filzstiften aus der Schulfedermappe. Auch die eigenen Körper setzten die Kinder ein, etwa um Schatten von Rosetten nachzubilden oder lebendige Mosaike zu legen.
Coronapost mit Löwenmäulchen
Wie überall hat die Coronapandemie auch beim Projekt „Drei Federstriche“ einiges durcheinandergebracht. Zeitweise fielen die nachmittäglichen Treffen zwischen den Kindern und der Künstlerin aus. Dennoch mussten die Teilnehmenden nicht auf Kunst verzichten. „Wir haben uns angepasst und waren kreativ“, berichtet Josefine Cyranka. Mal hat sie Kunstkisten gepackt und den Erzieherinnen und Erziehern im Hort kontaktlos übergeben, damit die mit den Kindern weiterarbeiten konnten. Als auch der Hort geschlossen war, erhielt jedes Kind ein eigenes Päckchen für zu Hause, das Materialien und eine kleine Aufgabe enthielt, etwa das Zeichnen von Pflanzen mit Tiernamen wie Löwenmäulchen oder Drachenkopfpflanze. Papier, Fotos der Pflanzen, Stifte, eine Anleitung, die Telefonnummer der Kursleiterin und ihre „Telefonzeiten“ lagen anbei. „Das Angebot wurde von den Kindern ganz selbstverständlich und gut angenommen. Manche haben mir Briefe zurückgeschrieben, andere haben über Messengerdienste Kontakt mit mir aufgenommen oder angerufen, aber alle haben mitgemacht.“ Das freut Josefine Cyranka besonders. Denn die Welt, in die das Projekt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entführt hat, war doch für viele Neuland – obwohl quasi vor der eigenen Haustür gelegen. Kupferstiche, Kirchenrosetten, Stillleben, der japanische Pinsel – es gab vieles Ungewohntes für die Jungen und Mädchen zu entdecken. „Es hat auch ein paar Kursstunden gedauert, bis alle angekommen waren“, hat Josefine Cyranka beobachtet. Genau deshalb wurde eben nicht immer offensichtlich Kunst gemacht. „Manchmal habe ich gesagt: Jetzt brauchen wir Urlaub“, erzählt die Kursleiterin. Nach einiger Zeit wussten alle, was das bedeutet: Sonnenbrille auf und die Welt mit anderen Augen sehen.