Kultur macht stark – und verleiht Flügel
Ein Gespräch über Projekte in Pandemiezeiten, Lernkurven und Gänsehautmomente. Dr. Monika Burzik, Leiterin vom Zweckverband Kulturforum und Kreismusikschule Mayen-Koblenz, schildert die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf.
Frau Dr. Burzik, wie sehr beeinträchtigt die Corona-Pandemie Ihre Projekte, die durch „Kultur macht stark“ gefördert werden?
Dr. Monika Burzik: Wir haben gelernt, damit zu leben. Während des Lockdowns war unsere Schule dicht. Auch unsere Projekte liefen nach dem Motto „Stop and go“. Momentan läuft bereits das neunte Projekt, das wir den Pandemie-Bedingungen anpassen mussten. Ein Wermutstropfen dabei ist der Verzicht auf die Abschlussveranstaltung, die sonst das Highlight eines jeden Projektes ist. Das kreative Ergebnis auch zu präsentieren, ist ein unglaublich wichtiger Bestandteil. Oftmals wird nun zum Abschluss ein Film gezeigt, der die Entstehung und den Verlauf der Projektarbeit zeigt. Dem können wir auch etwas abgewinnen, aber das Miteinander, das ja besonders im Vordergrund steht, leidet doch ein Stück weit. Die einzigartige Atmosphäre einer Live-Veranstaltung, wenn alle zusammenkommen, ist einfach etwas Besonderes.
Wer sind „alle“? Mit welchen Bündnispartnern kooperiert die Kreismusikschule bei „Kultur macht stark“-Projekten?
Dr. Monika Burzik: Vor allem mit Grundschulen im Landkreis Mayen-Koblenz, dazu mit dem Förderverein der Kreismusikschule und unserer Jugendkunstschule. Ergänzend kommen je nach Projekt unterschiedliche Verbündete hinzu. Hier gibt es eine große Bandbreite – vom Andernacher Stadtorchester bis zu einem Seniorenheim in Mayen. Überall erleben wir die Zusammenarbeit konstruktiv und positiv. Zudem erfahren wir große Unterstützung durch ehrenamtliche Mitarbeit. Lehrkräfte der Kreismusikschule engagieren sich freiwillig und unentgeltlich, zum Beispiel durch Bewirtung in den Pausen oder Begleitung intensiver Probenphasen.
An welche Kinder richteten sich Ihre Projekte und wie profitieren sie davon?
Dr. Monika Burzik: Es sind hauptsächlich Kinder mit erschwertem Zugang zu kulturellen Angeboten aus sozial benachteiligten Familien. Seit einigen Jahren liegt auch ein Schwerpunkt auf Angeboten für Kinder mit einem besonderen Förderbedarf im Bereich des schulischen Lernens, der Leistung und des Lernverhaltens. Sie haben ein verlangsamtes Arbeitstempo und benötigen nicht nur die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern müssen auch sozial, emotional und sprachlich gefördert werden. Sie profitieren in vielerlei Hinsicht von der Teilnahme an den „Kultur macht stark“-Projekten, im Wesentlichen aber wird ihr Selbstvertrauen gestärkt. Zudem entwickeln sie Offenheit und Toleranz, um ein respektvolles Miteinander zu leben. Verantwortungsgefühl und Teamgeist in der Gruppe werden gefördert.
Wie gelingt das am besten?
Dr. Monika Burzik: Indem man sie möglichst nicht irgendwelche vorgefertigten Texte auswendig lernen lässt und dann abfragt, sondern umgekehrt: Dass wir bei der Schülerschaft anfangen und zunächst schauen, welchem Kind was überhaupt Spaß macht und was es gut kann. Das war übrigens auch eine Lernkurve für uns Lehrkräfte.
Wie hat sich diese Lernkurve in der Praxis gezeigt?
Dr. Monika Burzik: Zunächst indem wir Lehrpersonal und Kinder und Jugendliche gleichermaßen von jeglichem Leistungsdruck befreit haben. Und siehe da, die anfangs hohe Fehleranfälligkeit nahm tatsächlich deutlich ab. Wenn zum Beispiel etwas nicht gut funktioniert hat und die Kinder sich schwer taten beim Erlernen bestimmter Dinge, haben wir ganz offen gefragt: Gibt es etwas, worauf du mehr Lust hast? Was kannst du gut? Dieses Eingehen auf individuelle Bedürfnisse hat sich bewährt. Während wir zu Anfang noch zumeist vorgegebene Musicals mit den Teilnehmenden erarbeitet haben, entwickelt das Team jetzt die Geschichten mit allen Facetten gemeinsam mit den Kindern. Texte, Songs, Choreografie, Bühnenbild und Kostüme entsprechen den Vorstellungen der Teilnehmenden.
Das heißt, es kommt bei den Aufführungen darauf an, alle von Beginn an einzubeziehen?
Dr. Monika Burzik: Ja, unbedingt. Je mehr Ideen die Kinder selbst entwickeln, desto besser. Während der Projektumsetzung ergab es sich dann, wer welche kreative Aufgabe übernimmt. Alle dürfen etwas ausprobieren und finden ihre besonderen Fähigkeiten. Darum geht es uns: diese Talente zu entdecken, sichtbar zu machen und zu fördern. Für Kinder, die in der Schule wenig Erfolgserlebnisse haben, ist das eine wunderbare Stärkung der Selbstwirksamkeit.
Welche Rolle spielt die Musik in den Projekten?
Dr. Monika Burzik: Sie spielt eine große Rolle, denn über Klänge, Töne und Rhythmen erreichen wir die Kinder auf einer emotionalen Ebene, Musik reißt jeden mit. Dabei erwarten wir nicht zu viel, Leistungsdruck ist kontraproduktiv. Manches Kind kommt erstmals mit Musik in Berührung und muss sich herantasten, daher freuen sich alle – inklusive der Lehrkräfte – über jeden kleinen Fortschritt. Im Übrigen beschränkt sich unsere Projektarbeit ja nicht nur auf das Musizieren.
Sondern?
Dr. Monika Burzik: Es geht grundsätzlich um das gemeinsame Finden und Ausleben von Ausdrucksmöglichkeiten. Hierfür ist das Musizieren eben nur eine Möglichkeit. Andere Optionen sind Hip-Hop-Workshops, Tanz- und Sprechszenen oder Choreografien. Unterm Strich zählt dabei, gemeinsam in einem Projekt einen Ausdruck zu finden – und insbesondere das Ergebnis am Schluss zu präsentieren. Und da passieren teilweise Dinge, die vorher so niemand für möglich gehalten hätte.
Zum Beispiel?
Dr. Monika Burzik: Jugendliche mit Sprachfehler stottern zum ersten Mal nicht mehr. Hoffnungslos Schüchterne stehen auf der Bühne und führen vor versammeltem Publikum einen Bauchtanz vor. Sie glauben gar nicht, wie Kinder und Jugendliche bei der Vorführung des Erlernten wachsen. Wie stolz sie auf das sind, was sie sich mit den anderen erarbeitet haben. Das verleiht buchstäblich Flügel.
Normalerweise bedeutet ja „Vorführeffekt“, dass Dinge wider Erwarten nicht funktionieren. Hier scheint es umgekehrt zu sein. Wie erklären Sie sich das?
Dr. Monika Burzik: Es sind Stolz und Freude über die eigene Leistung, die zu diesen Gänsehautmomenten bei der Präsentation führen. Das Spannende ist ja, wie viele andere Faktoren noch mit hineinspielen. Das hat auch viel mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu tun, die sie bei einer solchen Veranstaltung erfahren. Bedauerlicherweise kennen viele unserer Teilnehmenden solche Ermunterung nicht aus ihrem Elternhaus. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt es einfach, hin und wieder zu Hause gelobt zu werden.
Also Lob und Zuwendung als Lern-Doping?
Dr. Monika Burzik: So könnte man es nennen. Und es kommt sicher auch nicht von ungefähr, dass viele ganz traurig sind, wenn das Projekt schließlich zu Ende ist. So gut wie alle stellen die Frage, die ich inzwischen bereits erwarte: „Wann gibt es das nächste Projekt?“