Kinder und Jugendliche sind ganz Ohr
In Ferienworkshops experimentieren Kinder und Jugendliche in Kassel mit Klängen, die sie in ihrer Umgebung aufnehmen. Der niedrigschwellige Zugang zur Musik hilft dabei, sie langfristig dafür zu begeistern.
Die Geräusche der Umgebung blenden einige Menschen ganz gerne mal aus. Bei den von „Kultur macht stark“ geförderten „app2music“-Ferienworkshops mit Titeln wie „Capture the Trash/I Pad Band Projekt“ oder „City Sounds“ der Bunte Wege gUG in Kassel passiert genau das Gegenteil: Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren hören ganz genau hin. Die Schülerinnen und Schüler der Fasanenhofschule und der Hegelsbergschule werden dazu ermuntert, den Geräuschen ihrer Umgebung ganz genau nachzuspüren. Sie nehmen Klänge auf und experimentieren damit. Ihr Handwerkszeug sind nicht etwa Instrumente und Rekorder, sondern Tabletcomputer, die der Verein „app2music“ e.V. zur Verfügung stellt, sowie die App „Koala Sampler“. Mit den eingebauten Mikrofonen sowie der Musikapp verwandelt sich das Tablet schlagartig in eine Kreativmaschine. Am Ende des Ferienworkshops nehmen alle ein eigenes Musikstück mit nach Hause.
Dass die Gruppe altersgemischt ist und sich die Kinder und Jugendlichen aus Familien verschiedener Herkunft erst kennenlernen müssen, ist Danilo Roth zufolge unproblematisch. Der Sozialarbeiter arbeitet beim Klang Keller e.V., einem der zahlreichen Kasseler Bündnispartner. Das gemeinsame Interesse am Umgang mit den Tablets und das Faible für Musik eint die Teilnehmenden. Und auch die Situation, dass sie zuvor noch keinen oder kaum Zugang zu Angeboten der kulturellen Bildung hatten. „Wer bei unseren Workshops mitmacht, ist nicht jemand, der schon in der Musikschule war“, beschreibt Danilo Roth. Viele der Kinder und Jugendlichen haben Migrationserfahrung, die Schülerschaft der Gesamtschule Hegelsberg setzt sich aus 39 Nationen zusammen. In die Ferienworkshops der Bunte Wege gUG kommen Kinder und Jugendliche, deren Eltern aufgrund mangelnder eigener Erfahrung oder schwieriger sozialer Situationen kaum eigene kulturelle Impulse geben können. „Für die, die zu uns kommen, ist der soziale Austausch wichtig. Viele erleben erstmals, dass sie etwas gut können, dass sie Erfolg haben“, sagt Danilo Roth.
Gemeinschafts- statt Soloprojekt
Im Vordergrund des einwöchigen Workshops steht deshalb das Miteinander. „Das ist das, worauf es beim Workshop ankommt: ohne Druck neue Kenntnisse zu erlangen, sich in einer Gruppe gegenseitig zu helfen“, betont Fabian Koch. Der Musiker und Geschäftsführer des Klang Keller e.V. betreut mit Danilo Roth und einem Team aus ehrenamtlich engagierten Musikern und Musikerinnen einen Teil der über die Bunte Wege ausgerichteten und koordinierten Ferienworkshops. Nach einer Einführung in die technischen Möglichkeiten der Tablets und der App ziehen kleinere Gruppen von Teilnehmenden los und starten das „Field Recording“, also die Aufzeichnung von Natur- und Umgebungsgeräuschen.
Faszination für den 3-D-Drucker
Normalerweise sind die Teilnehmenden viel an der frischen Luft unterwegs, um typische Geräusche der Stadt mit dem Tablet einzufangen. Im jüngsten Herbstferienprojekt, das vom 18. bis zum 22. Oktober 2021 stattfand, hat das regnerische Wetter die Gruppe dazu gezwungen, die Aufnahmen weitestgehend in Innenräume zu verlegen. „Das hat aber trotzdem sehr gut geklappt“, sagt Danilo Roth.
In der offenen „Do it yourself“-Werkstatt „Hammertime“, gleich neben dem Jugendzentrum, haben die Klangsammlerinnen und Klangsammler reiche Beute gemacht: „Dabei sind ziemlich raue Musikstücke entstanden, weil wir die Geräusche der Geräte der Elektrowerkstatt aufgenommen haben“, schildert Danilo Roth. Schöner Nebeneffekt: Die Teilnehmenden interessierten sich auch für die Lötstation, den Lasercutter-Platz und den hauseigenen 3-D-Drucker. „Der hat alle in seinen Bann gezogen, die meisten hatten sowas noch nie gesehen“, erzählt Danilo Roth. Die ehrenamtlichen Kräfte der Bunte Wege gUG kümmerten sich auch um die Einhaltung der Corona-Regeln und Hygienevorschriften, hatten etwa immer ein Auge darauf, dass die Tablets desinfiziert waren.
Wilde Gedanken in Kreativität umwandeln
Für das Team der Bunte Wege ist es in den Projekten immer wieder berührend zu beobachten, wie Teilnehmende „aufblühen“. „Oft sind es Kinder oder Jugendliche, von denen man es nicht erwartet. Sie sind anfangs sehr unruhig, fast sprunghaft und können sich kaum länger als einige Minuten auf etwas konzentrieren“, beschreibt Danilo Roth. Er berichtet von einem Zehnjährigen „mit ziemlich wilden Gedankengängen“, der mithilfe des Tablets seine chaotischen Ideen in kreative Ergebnisse verwandelt hat. Dessen Musikstücke erinnern Roth an den energiegeladenen Elektropunk des französischen Duos „Daft-Punk“. Der Sozialarbeiter hat dafür gesorgt, dass der Zehnjährige seine Musik auch seinen Lehrerinnen und Lehrern vorspielen konnte. „Das hat nicht nur ihn happy gemacht, sondern auch mich: zu sehen, wie seine Lehrerinnen und Lehrer ihn danach anders einschätzten.“ Die Bunte Wege hält engen Kontakt zu den Schulen. Man vernetzt sich untereinander, nicht nur mit der Fasanenhofschule und der Hegelsbergschule, sondern auch mit anderen Jugendhäusern, etwa dem Geschwister-Scholl-Haus.
Nachhaltige Wirkung des Musikprojekts
Und wie sieht es mit der nachhaltigen Wirkung des Musikprojekts aus? „Wir sehen in den vergangenen Jahren, dass die Klangsammelprojekte so ansprechend sind, dass manche Kinder und Jugendliche auch ein zweites oder drittes Mal mitmachen“, schildert Fabian Koch, der auch beobachtet, dass die Teilnehmenden beginnen, sich langfristig für Musik zu begeistern – und ihre Kenntnisse gerne an Jüngere weitergeben. „Die älteren Kids werden sowas wie ein verlängerter Arm für uns, sie kennen sich gut mit den Tablets aus und teilen ihr Wissen. Auch diese Erfahrung ist für manche neu und ein wunderbares Erfolgserlebnis der Selbstermächtigung“, sagt Danilo Roth.