Wissen macht diversitätssensibel
Vielfalt stärkt uns, wenn wir sensibel mit Unterschieden umgehen können. Was das für die junge kulturelle Bildungsarbeit bedeutet und wie das richtige Wissen hier Projekte voranbringt, berichten vier „Kultur macht stark“-Programmpartner im Interview.

Was zeichnet diversitätssensible Projekte in der kulturellen Bildung aus und wie leben unsere „Kultur macht stark“-Programmpartner Vielfalt in ihren Organisationen? Antworten auf diese Fragen geben im Folgenden Martina Kessel von Aktion Tanz – Bundesverband Tanz in Bildung und Gesellschaft e. V. (Aktion Tanz), Dominik Eichhorn von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ), Tülay Zengingül vom Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen (NeMo) e. V., und Jennifer Köhler von der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche ASSITEJ e. V. Bundesrepublik Deutschland (ASSITEJ).
Was bedeutet diversitätssensible kulturelle Bildungsarbeit für Sie?
Zengingül (NeMo): Für mich ist Diversität ein Querschnittsthema. Es ist selbstverständlich, dass wir in den Projekten wertschätzend mit allen Kindern und Jugendlichen umgehen und vorurteilsfrei sind. Zudem sollten in den über NeMo geförderten Projekten möglichst immer Fachkräfte mit Migrationsgeschichte oder Fluchtgeschichte mit dabei sein, denn solche Vorbilder stärken junge Menschen mit ähnlichen Erfahrungen.
Kessel (Aktion Tanz): Bei meiner Arbeit für das „Kultur macht stark”-Förderprogramm Chance Tanz geht es allgemein um die Achtung der Individualität, das schließt die Migrationsgeschichte ein und ein breites Feld weiterer Erfahrungen, wie etwa die von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Auch da müssen wir erkennen, was nötig ist, damit ein Projekt für diese Zielgruppe funktioniert. Zwischen den verschiedenen Lebenswelten und Einrichtungen wie etwa den Schulen, die junge Menschen mit und ohne Behinderungen besuchen, gibt es oft kaum Überschneidungen. Diversitätssensibel zu sein, heißt zu erkennen, dass die eigene Lebenswelt nur eine von vielen ist.
Eichhorn (BKJ): Wichtig finde ich außerdem die Räume zu kennen, in denen Kinder und Jugendliche Bildung erleben. Für mich ist das immer ein Dreiklang: Schule, außerschulische Bildungsorte im Sozialraum der Kinder und Jugendlichen und ihr Zuhause. An allen Orten findet informelle Bildung statt – etwa durch Medien, bestimmte Repräsentationen und unterschiedlichste Lebensrealitäten. Ich glaube, es ist zum Beispiel auch wichtig, dass wir Empowerment-Räume fördern, die Schutzräume für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sind und zu denen nicht jeder Zugang hat.
Köhler (ASSITEJ): Da kann ich mich anschließen. Ergänzen möchte ich noch den Aspekt der Teilhabe: Sensible kulturelle Bildungsarbeit wird nur dann möglich, wenn wirklich alle jungen Menschen ihr Recht auf Teilhabe an kultureller Bildung wahrnehmen können. Dafür braucht es Projekte, an denen durch Wissen um Diskriminierungsformen sensibel mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wird und die entsprechend vorgeplant werden können.
Was bewirken diversitätssensibel ausgerichtete Projekte im besten Fall?
Köhler: Die dort teilnehmenden Kinder und Jugendlichen nehmen Vielfalt als Normalität wahr. Zudem können sich durch den Einbezug junger Menschen, die vorher von kultureller Bildung ausgeschlossen waren, neue künstlerische Ausdrucksformen entwickeln, von denen letztlich alle profitieren.
Zengingül: Potenzial sehe ich außerdem darin, dass diese Art der kulturellen Bildung das Selbstbewusstsein junger Menschen stärkt und ihr Demokratiebewusstsein fördert.
Eichhorn: Richtig. Demokratiebewusstsein entsteht vor allem dann, wenn kulturelle und politische Bildung Hand in Hand gehen. Hier wird das Potenzial der kulturellen Bildung aber oft noch unterschätzt.
Kessel: Kinder und Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft erhalten in diversitätssensibel ausgerichteten Projekten zudem eine Chance, über eigene Privilegien zu reflektieren. Vielfalt ist eine Stärke, davon bin ich überzeugt. Aber sie ist das nicht von selbst. Menschen müssen dafür Unterschiede akzeptieren und aushalten können. Genau das erleben und lernen sie in solchen Projekten.
Was zeichnet diversitätssensible Projekte in der Praxis aus?
Köhler: Diversitätssensible Projekte schauen darauf, wen sie noch nicht erreichen und warum – sie setzen sich also sehr konkret mit Ausschlüssen auseinander, reflektieren und hinterfragen diese. Kinder und Jugendliche wiederum fühlen sich in diesen Projekten repräsentiert. Beispielsweise, weil zum Projekt und der Zielgruppe passende Honorarkräfte anwesend sind. Wer etwa junge Menschen mit Diskriminierungserfahrungen oder sogar Traumata pädagogisch begleiten möchte, braucht darauf spezialisierte und qualifizierte Fachkräfte, die Diskriminierungen nicht versehentlich reproduzieren oder Retraumatisierungen verursachen. Zudem gibt es berechtigterweise viele Projekte, die Kindern und Jugendlichen die deutsche Sprache näherbringen wollen. Aber gerade im künstlerischen Bereich deuten diversitätssensible Projekte Deutsch als Zweitsprache nicht als Defizit, sondern setzen Sprache auch als künstlerisches Mittel ein, das Vielfalt repräsentiert.
Zengingül: Das stimmt. Bei einem Projektbesuch in Berlin lernte ich eine Gruppe Jugendlicher mit sehr unterschiedlichen Deutschkenntnissen kennen, die einen Schauspielkurs besuchten. Das Projekt ermöglichte es ihnen, in Zweiergruppen zu schauspielern, entweder in Deutsch oder in ihrer Herkunftssprache, die dann übersetzt wurde. Die Jugendlichen waren begeistert von dieser Möglichkeit und einige hätten – ohne diese Option – gar nicht erst mitgemacht.
Was diversitätssensible Projekte außerdem richtig machen, ist, dass sie sehr differenziert auf die Hintergründe der Teilnehmenden schauen. Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung sind für sie zum Beispiel eine Gruppe, die in sich keinesfalls homogen ist.
Kessel: Richtig! Das Wort diversitätssensibel klingt erstmal nach viel Gefühl und Empathie, aber hat eben auch viel mit Wissen zu tun. Man muss beispielsweise wissen, dass geflüchtete Menschen nicht alle dieselbe Geschichte teilen oder dass sehr kleine Kinder nicht so feinmotorisch tanzen können wie größere – nur mit solchen Kenntnissen kann man dann auch adäquat mit den Zielgruppen arbeiten.
Inwiefern spielt Vielfalt auch in Ihrer eigenen Organisation eine Rolle?
Zengingül: Wir haben bei NeMo zum Glück ein sehr diverses Team in den beiden Geschäftsstellen und bringen sehr unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungen mit. Wir haben ein Bewusstsein für Vielfalt und die unterschiedlichen Hintergründe und wissen, was damit einhergeht. Ich schätze diese Teamatmosphäre sehr.
Eichhorn: Ich glaube, dass Vielfalt für viele Verbände und Dachverbände von größter Bedeutung ist. Ihre Traditionen sind teilweise sehr, sehr lang und es haben sich über Jahrzehnte Strukturen gebildet und es sind auch Netzwerke entstanden, die nicht immer ein Abbild unserer gesamten Gesellschaft sind. Letztere besteht aber nicht nur aus mehrheitlich weißen Menschen, daher ist es absolut richtig, dass sich auch die BKJ Diversität als Ziel setzt und schaut, wo Prozesse nötig sind, um diese überall zu verankern und was man dafür tun muss – etwa in der Gremienarbeit oder beim Erreichen bestimmter Zielgruppen. Das ist ein langer struktureller Weg, der viel institutioneller Selbstreflexion bedarf.
Kessel: In der Praxis ist es oft schwierig, alle Perspektiven gleichzeitig einzubringen. Aber es ist keine Option abzuwarten, bis sich von allein etwas tut. Man muss anfangen. Wir wollten bei Aktion Tanz zum Beispiel einen diverseren Vorstand und haben das letztlich nur geschafft, weil wir ganz bewusst Personen ansprachen, die einen anderen kulturellen Hintergrund mitbringen.
Köhler: Genau. Auf Organisationsebene ist es wichtig, Schwerpunkte zu setzen und sich nacheinander auf den Abbau verschiedener Barrieren und Ausschlüsse zu konzentrieren. Wir in der ASSITEJ beschäftigen uns derzeit beispielsweise sehr stark damit, Jurybesetzungen zu hinterfragen. Unser Ziel ist es, Fachjurys ebenfalls divers aufzustellen, um Diskriminierungsformen zu erkennen und Ausschlüsse wahrnehmen zu können. Wir beziehen daher von Diskriminierung betroffene Personen in Entscheidungsprozesse unserer Organisation ein – denn sie spielen nicht nur auf der Vermittlungsebene und bei der Umsetzung eine Rolle, sondern müssen auf allen Ebenen der Organisationsentwicklung einbezogen werden.