Ankommen – was bedeutet das?
Was heißt es wirklich, in Deutschland seine neue Heimat zu finden? Diese Frage stellt sich Sozialpädagogin Maike Oertel. In ihrem Projekt „Angekommen in Deutschland“ nähern sich Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte in fünf Workshops dem Begriff des Ankommens.

Es ist das Jahr 2015. Für viele Menschen ein Jahr des Aufbruchs, verbunden mit dem Wunsch nach Ankommen. Auch für die Sozialpädagogin Maike Oertel ein besonderes Jahr. In ihr entsteht der Wunsch, Wege zu finden, die hier ankommenden Menschen willkommen zu heißen und sie bei der Integration zu unterstützen. Zusammen mit ihren Bündnispartnern in Lohfelden und Kassel entwickelt sie ein Workshop-Format, das die Dimensionen des Ankommens für Jugendliche erlebbar werden lässt.
Die Workshops sind bewusst einfach und niedrigschwellig aufgebaut: Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren treffen sich und widmen sich gemeinsam einem vorgegebenen Thema, das sie ohne formelle Vorgaben diskutieren können. Jedes der insgesamt fünf Workshop-Themen hat einen Bezug zu den Begriffen „Heimat“ und „Ankommen“. Im Rahmen der Workshops führen sie Interviews mit Menschen mit Migrationsgeschichte und erfahren die vielen persönlichen Dimensionen und Geschichten von Ankommen. Die Ergebnisse dieses Austauschs bereiten sie anschließend mit Unterstützung des Medienpädagogen Mike Huntemann medial auf, zum Beispiel in Form von Fotos, Kurzfilmen oder Textilbearbeitung. Im Zentrum jedes Workshops steht dabei der Gedanke, über den offenen Austausch Brücken zwischen Menschen verschiedenster Herkunft herzustellen.

Herz-zu-Herz-Beziehungen
Ein Projekt des Willkommens ins Leben zu rufen, das für viele einfach zugänglich ist und dennoch Verbindungen schafft, war der Wunsch von Maike Oertel. Sie betont ihr Anliegen „die Hemmschwelle durch Zusammenarbeit, durch Begegnung niedrig zu halten und auch abzubauen.“ Dieses Ziel treibt sie bis heute an: „Ich weiß, dass durch Begegnung die Mauern zwischen Menschen fallen, dass man eine Herz-zu-Herz-Beziehung herstellt, durch die man sein Gegenüber versteht und warum es so ist, wie es ist.“ Einer der Grundgedanken des Projekts ist es, Menschen, die vorher vielleicht noch keinen Kontakt mit dem Thema Flucht und Migration hatten, einen Einblick in das Leben von Geflüchteten zu gewähren. „Deutsche, die teilgenommen haben, können sich oft gar nicht vorstellen, dass hier ein junger Mensch ganz allein ist“, erzählt sie. Ein solcher Austausch sei aber für alle wertvoll, denn er fördere die Empathiefähigkeit und stärke das Miteinander in unserer vielfältigen Gesellschaft.
Gemeinsam einen Ort des Austauschs schaffen
Zu den Bündnispartnern von „Angekommen in Deutschland“ gehören das Familienzentrum Lighthouse – Treffpunkt für alle e.V., die Gemeinde Lohfelden und das Medienprojektzentrum Offener Kanal Kassel. Räume für die Workshops wurden vom Familienzentrum und der Gemeinde Lohfelden zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus unterstützt die Gemeinde auch mit Fahrzeugen, um zu den verschiedenen Begegnungsstätten zu gelangen. Die technische Ausstattung für die Medienworkshops sowie Räume für die Medienproduktion und das dazugehörige Know-how erhält das Workshop-Programm vom Medienprojektzentrum.
Ankommen durch gemeinsame Erlebnisse
Das aktuelle Programm startete 2023 und läuft noch bis Ende dieses Jahres. Die Themen der einzelnen Workshops erarbeiteten die Jugendlichen im Vorfeld selbst. Sie sind danach ausgerichtet, was einige von ihnen als Neuankömmlinge in Deutschland emotional am meisten bewegte. So entstanden beispielsweise Workshops zu den Themen „Glücklichsein“ und „Wohlfühlorte“, die jeweils über eine Dauer von 30 Stunden durchgeführt wurden. Auch ein gemeinsamer Ausflug auf die Insel Föhr war mit den Fördermitteln von „Kultur macht stark“ möglich. „Der Ansatz des ganzen Programms ist natürlich, junge Menschen medienpädagogisch zu unterrichten, aber eben auch, sie in ihrer Identität zu stärken – als Menschen, die wissen, wer sie sind und was sie wollen“, beschreibt Maike Oertel. Sie ist überzeugt, man erreicht dies „durch schöne Dinge, die man gemeinsam erlebt“.

Altes zurücklassen, Neues wagen
Über den kulturellen Austausch hinaus geht es in „Angekommen in Deutschland“ auch darum, junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, eventuell erlebte traumatische Erfahrungen hinter sich zu lassen. „Die Vergangenheit ertragen zu können und ,heil‘ zu werden, das ist eigentlich das komplette Programm“, fasst sie zusammen. Die allgemeine Resonanz auf das Projekt sei durchweg positiv und schließe ganze Familien ein: „Alle sind begeistert – auch die Eltern, die uns ja kennen.“ Als Dankeschön von den Müttern der Jugendlichen bekocht zu werden, sei für Maike Oertel und ihre Kolleginnen und Kollegen keine Seltenheit.
Selbstwirksamkeit stärken
Kulturelle Bildung ist für Oertel der Schlüssel zu einer gelungenen Integration: „Viel miteinander sprechen, eine Kultur des Austauschs vorantreiben und Friedensorte schaffen, neugierig sein und so ein bisschen den Nächsten lieben wie sich selbst“, nur so lasse sich aus ihrer Sicht gemeinsam Demokratie stärken. Im letzten Workshop ist geplant, die von den Teilnehmenden produzierten Werke des gesamten Förderzeitraums im Rahmen einer Ausstellung zu präsentieren. Die Organisation dafür übernehmen die Jugendlichen selbst. Selbstwirksamkeit zu vermitteln, spiele eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit: „Wir möchten den jungen Menschen beibringen, groß zu träumen.“ Angekommen in Deutschland – das sind die Teilnehmenden nach dem Besuch eines Workshops dieses Programms wahrscheinlich schon ein bisschen mehr als vorher.
