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Spiel ohne Grenzen

Eine eigene Stadt mit drei Achterbahnen, aber ohne Schule. Kinder aus Bassum in Niedersachsen konstruieren in einer virtuellen Gemeinschaft ihre eigene Fantasiewelt im Spiel „Minecraft“. Dort lassen sie kleine Geschichten spielen, die sie filmen.

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt – diese Redensartart passt auch zum Projekt „Minecraft in Bassum“. Eigentlich wollte die Medienpädagogin Brigitta Wortmann den Kindern und Jugendlichen im Kurs die Technikwelt rund um das Onlinespiel „Minecraft“ näherbringen. Inzwischen ist aus dem einwöchigen Kurs, den sie zusammen mit dem Mütter-Kinder-Zentrum Bassum e.V. und dem Familienzentrum der niedersächsischen Stadt im April 2020 angeboten hat, eine Online-Spielgemeinschaft geworden. Beim Spielen haben sich die Teilnehmenden auch mit gesellschaftlichen Fragen auseinandergesetzt, mit Themen wie Informationsvermittlung, Identität und Rollenbildern.

Eigene Welt aus Pixeln bauen

Zweimal die Woche treffen sich rund zehn Kinder zwischen zehn und 14 Jahren per Videochat in ihrer virtuellen Stadt im Spiel „Minecraft“. Bei der Erschaffung einer eigenen Welt aus Pixeln sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. „Man startet bei null, weiß nicht, wohin die Reise geht. Damit etwas entstehen kann, ist vor allem Teamarbeit gefragt. Die Kinder haben miteinander Themen entwickelt und sich selbst Regeln gesetzt im Umgang miteinander. Eines der obersten Gebote ist, den anderen ausreden zu lassen“, erläutert Medienpädagogin Brigitta Wortmann.

Beim Spielen über Gefühle sprechen

Die Kinder haben digitale Gebäude, Stadtlandschaften und Kreuzfahrtschiffe erschaffen – eine wunderbare Gelegenheit, dem manchmal stressigen Alltag gedanklich zu entfliehen. In dieser Welt können sie zusammenkommen, zusammen lachen und albern sein, aber auch darüber sprechen, wie frustrierend der Schulunterricht unter Corona-Bedingungen ist. „Manchmal wollen sie über Gott und die Welt sprechen, es ist eine große Vertrautheit entstanden – obwohl sich die Kinder noch nie persönlich getroffen haben. Sie besuchen unterschiedliche Schulen und kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten“, erklärt Brigitta Wortmann. Sie hat ihre virtuelle Spielfigur „Märchenfee“ getauft, die Kinder treten auf als „Blackmini09“, „Eidechseblatt44“ oder „Maxomax69“. Würden sich die Jungen und Mädchen zufällig auf der Straße begegnen, würden sie sich nicht erkennen – ganz im Gegensatz zu den „Minecraft“-Charakteren: „Die würden sie sofort zuordnen können“, meint die Medienpädagogin.

Eine Achterbahn fürs Rathaus

Im Laufe der Zeit haben die Teilnehmenden ihre namenlose Stadt immer wieder verändert. Es gibt Stadtvillen mit riesigen Baumhäusern, einen rot-weißen Leuchtturm und ein Rathaus. Es war eines der ersten Gebäude, das die Kinder entworfen haben – und es besitzt eine Achterbahn. „Jedes Rathaus sollte eine Achterbahn bekommen“, war sich die Gruppe einig. Inzwischen gibt es sogar drei Achterbahnen in ihrer Fantasiestadt sowie ein detailgetreues Fernsehstudio mit VIP-Eingang. Es gibt auch einen Gerichtssaal und ein Gefängnis. Was es bislang nicht gibt, sind ein Polizei- und ein Schulgebäude. Die Kinder seien sehr, sehr stolz auf das, was sie geschaffen haben, sagt Brigitta Wortmann. „Sie können sich vollkommen frei und kreativ entfalten. Es gibt keine Grenzen. Und das Wichtigste: Hier kann jeder aussehen, wie er will. Beim Videochat lassen die Kinder meistens die Kameras aus.“

Computerspiel mit verschiedenen Charakteren
Wer ist böse, wer ist gut? Beim Rollenspiel kann man es ausprobieren. © Brigitta Wortmann
Digitaler Kontakt zu den Familien

Die Spielgemeinschaft nutzt ein Videokonferenz-Tool als Ergänzung zu der Chat-Möglichkeit im Spiel. So kann etwa auch Katarina Wetzel, Geschäftsführerin des Mütter-Kinder-Zentrums, nach Vorankündigung in der Runde vorbeischauen. Das Projekt ist auch Inspiration für ihre Arbeit im Zentrum. „Wir wollten schon länger digitale Möglichkeiten finden, den Kontakt zu unseren Familien zu halten“, sagt sie. Die Minecraft-Spielegruppe sei das erste Online-Projekt des Zentrums gewesen und habe sich bewährt. „Vor allem im ersten Lockdown, als die Schulen so lange geschlossen waren, bot unser Spielangebot so etwas wie den sicheren Hafen, gab eine Struktur vor“, erzählt Brigitta Wortmann. Von den Eltern der Kinder, zu denen sie über Mail Kontakt hält, bekam sie viele positive Rückmeldungen: „Den Eltern ist es wichtig, dass die Kinder sinnvoll beschäftigt sind, wenn sie im Netz unterwegs sind.“

Nach der Langeweile kommt ein Kreativschub

Längst hat die Spielgemeinschaft weitere kreative Wege gefunden, ihre Ideen weiterzuentwickeln. Brigitta Wortmann verhehlt nicht, dass es über den langen Zeitraum durchaus auch mal Durchhänger bei den Teilnehmenden gab. „Da waren auch Phasen der Langeweile dabei, aber wir haben gelernt, diese auszuhalten. Und toll war anschließend immer, was sich aus diesen Phasen entwickelt hat – da gab es richtige Kreativschübe“, schildert sie. Inzwischen schneiden die Kinder kleine Filme, die bei YouTube zu sehen sind. Sie haben zum Beispiel das von ihnen erbaute Kreuzfahrtschiff auf eine abenteuerliche Reise geschickt – sie bauen also nicht nur ihre Stadt, sie entwickeln auch Mini-Drehbücher und lernen den Umgang mit digitalen Schnitttechniken. 60 Folgen sind bereits entstanden.

Jugendliche probieren Rollenbilder aus

Momentan gebe es wieder eine „Sturm- und Drangphase mit vielen neuen Ideen“, so Brigitta Wortmann. Die Kinder sind inzwischen Jugendliche geworden. Sie nutzen die Spielgruppe, um in andere Identitäten zu schlüpfen, sind mal gute und mal böse Charaktere, testen die Gendergrenzen aus, indem Jungs Mädchenrollen übernehmen und umgekehrt. Sie diskutieren über Rollenbilder, aber auch über Kommunikation, Informationsverarbeitung und Inklusion. Denn sie haben eine Person in ihren Reihen, die sich aufgrund von milden autistischen Merkmalen schwertut, soziale Kontakte zu knüpfen. Und wann trifft sich die Spielgemeinschaft vor Ort im Familienzentrum Bassum? „Hoffentlich im Frühjahr“, meint Brigitta Wortmann. Momentan sind die Bündnispartner dabei, ein Hybridformat zu entwickeln. 

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Seit 1998 ist Brigitta Wortmann als Medienpädagogin, Musikerin und Märchenerzählerin selbstständig. Die Medienpädagogin hat mit den Teilnehmenden parallel zum Projekt eine Webseite erstellt, auf YouTube sind die Filme zu finden. Das Mütter-Kinder-Zentrum Bassum e.V. versteht sich als Treffpunkt aller Generationen und als Nachbarschaftstreff in Bassum. Dort ist auch Familienzentrum Bassum, eine Einrichtung der Stadt Bassum, untergebracht.