Der Traum von Solidarität
Im Essener Projekt „Ruhrpott Funk“ erobern sich Kinder und Jugendliche die Welt des Tanzes. Durch Musik und Bewegung drücken sie in Choreografien ihre Gefühle und Meinungen aus. Sie träumen von einer Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt.
Tanzen macht glücklich, lässt die Sorgen verschwinden und setzt neue Energie frei. Das erlebten Kinder und Jugendliche, die am Essener Projekt „Ruhrpott Funk“ teilnahmen. Etwa fünfzig Teilnehmende probierten von September 2021 bis Januar 2022, in drei Altersgruppen gestaffelt, urbane Tanzstile aus und entwickelten Theaterszenen und kleinere Choreografien. Angeleitet von den Tanzprofis Souhail Jalti und Joana Escobar, trafen sie sich wöchentlich im Jugendzentrum Hüweg im Essener Osten zur Probe. Tänzer und Choreograf Souhail Jalti ist Mitgründer von B.E.K.I.N.D. e.V., einem gemeinnützigen Verein für interkulturelle und nachhaltige Kultur- und Jugendarbeit. Partner im Bündnis um B.E.K.I.N.D. waren die Jugendhilfe Essen als Betreiberin des Jugendzentrums Hüweg und der Essener Verein „Lichtpunkt in der Welt“, der vor allem syrische Familien unterstützt. Das „Kultur macht stark“-Projekt wurde durch den Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen e. V. gefördert.
Ausprobieren und Neues entdecken
Die drei Bündnispartner arbeiten schon über einen längeren Zeitraum vertrauensvoll zusammen. Souhail Jalti gibt nicht nur künstlerischen Input, der Choreograf und Tänzer behält auch organisatorisch den Überblick, kümmert sich etwa darum, dass das künstlerische Angebot in den Schulen, in anderen Jugendzentren und in den sozialen Medien beworben wird. „Das Jugendzentrum Hüweg ist ein offenes Angebot, da können Kinder und Jugendliche auch spontan vorbeikommen“, sagt Souhail Jalti. Zusammen mit drei weiteren Tanzprofis sowie den sozialpädagogischen Fachkräften aus dem Jugendzentrum wurde das Projekt so organisiert, dass in den Altersgruppen Sieben- bis Zehnjährige, Elf- bis 14-Jährige und 15- bis 18-Jährige jeweils in kleineren Gruppen zusammenarbeiteten. „Es gab immer eine feste Kerngruppe, aber wir haben das so angelegt, dass wenn Freundinnen und Freunde mitkommen wollten, das natürlich auch möglich war. Wir verstehen unsere Arbeit als Angebot – alle können sich ausprobieren, Neues entdecken und es ist ja auch okay, wenn man merkt, Tanzen ist nichts für mich“, erklärt Souhail Jalti.
Ausgrenzung ist ein Thema, das viele kennen
Talente wecken, Kreativität ermöglichen, den eigenen Blick auf die Nachbarschaft und die große weite Welt schärfen – es sind viele Aspekte, die das Tanztheaterprojekt abdeckt. Mit Musik und Bewegung lassen sich Gefühle und Erlebnisse künstlerisch verarbeiten. Diese Form der nonverbalen Kommunikation ist insbesondere für Kinder und Jugendliche eine Bereicherung, die noch dabei sind, ihre Deutschkenntnisse zu erweitern. Ausgrenzung ist ein Thema, das viele Kinder und Jugendlichen im Essener Ostteil kennen. Es ist ein raues Viertel, dichte Wohnbebauung und Industrieanlagen prägen das Stadtbild, die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Vielfalt erwünscht!
„Ruhrgebiet muss man nicht können, Ruhrgebiet muss man wollen“, lautet ein Slogan, der selbstbewusst mit dem Image des drittgrößten Ballungsraums Europas umgeht. Diesen Spirit greift „Ruhrpott Funk“ auf: „Ja, die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, haben es schwer. Sie erleben Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe. Ihnen ist bewusst, dass Kinder und Jugendliche aus anderen Stadtteilen nicht eine Woche lang in denselben Klamotten rumlaufen müssen. Einige der Familien leben im Status der Duldung. Die Kinder und Jugendlichen bekommen natürlich die Sorgen der Eltern mit, die gerne arbeiten möchten, es aber nicht können. Ja, alle haben auf ihre Art ihr Päckchen zu tragen, aber das bedeutet nicht, dass sie die Köpfe in den Sand stecken“, schildert Souhail Jalti. Fehlender Platz zum Spielen zwischen den Hochhäusern, Einsamkeit in der Anonymität der Großstadt, gleichzeitig aber auch die Toleranz und die Diversität im urbanen Raum – auch das sind Themen, die Kinder und Jugendliche umtreiben. Sie gehen kreativ, empathisch und vor allem energiegeladen damit um: entwickeln HipHop- und Rap-Texte, unterlegen sie mit elektronischer Musik und choreografieren Tanzszenen dazu. Sie bringen eine Welt auf die Bühne, in der Vielfalt erwünscht und Solidarität erlebt wird. Das Fremde zu verstehen, von allen Kulturen zu lernen und als Gesellschaft zusammenzuwachsen – das ist ihre Botschaft.
Nähe und Vertrauen sind wichtig
Dass die erwachsenen Tänzerinnen und Tänzer selbst aus Marokko, den Philippinen und aus Simbabwe stammen, ist für die Kinder und Jugendlichen wichtig. „Weil wir authentisch sind“, meint Souhail Jalti. „Wir kennen ähnliche Milieus, wie die der Kinder und Jugendlichen. Wir kommen aus Elternhäusern, wo das Geld knapp war, haben in Vierteln gelebt, die einen schlechten Ruf haben, kennen das Gefühl, aufgrund unseres Aussehens in eine Schublade gesteckt zu werden. Das schafft Nähe und Vertrauen.“ Zwei wichtige Stichworte, für das Projekt „Ruhrpott Funk“: Die Kinder und Jugendlichen öffnen sich, lassen Nähe zu und fassen Vertrauen zu den anderen in der Gruppe und zu sich selbst. Sie erfahren, dass ihre Meinung gehört wird.
Glücklicher Moment im Rampenlicht
Unter großem organisatorischen Aufwand ist es im Dezember gelungen, trotz strikter Corona-Auflagen eine Show im Jugendzentrum auf die Bühne zu bringen. Eine Herzensangelegenheit für alle Beteiligten. „Diese Minuten im Rampenlicht, diese Chance, das Erarbeitete zu zeigen, waren für die Kinder und Jugendlichen sehr wichtig. Es stärkt ihr Selbstvertrauen, sie beweisen, dass etwas in ihnen steckt. Es ist ein Gefühl, dass sie im Alltag durchaus vermissen.“