„Geschichte erfahren übers Geschichten erzählen“ – per Audiowalk durch Niederrad
Wie gelingt es, Kinder und Jugendliche für die Geschichte ihrer Stadt zu begeistern? Das Projekt „Mit Schildkröten durch Zickzackhausen“ schickt sie auf Spurensuche und entwickelt aus ihren Eindrücken einen Audiowalk mit Liveszenen.
„Stell dir vor, du bist auf der Rennbahn. Überall Menschen. Die Pferde stehen in Startposition. Aber du bist nicht bloß Zuschauer. Du bist der Stadionsprecher. Was hörst du? Was siehst du? Wie sagst du das Rennen an?“ Haike Rausch und Torsten Grosch, das Künstlerduo 431art, sitzen inmitten einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern zwischen 11 und 15 Jahren. Sie beschreiben eine Situation, sie schaffen eine Stimmung und lassen dann die Teilnehmenden in das Erlebnis eintauchen. Sie zeigen ihnen nicht bloß Bilder einer Rennbahn; sie schicken sie auf die Tribüne.
Die Umgebung mit allen Sinnen erleben
Das „Kultur macht stark“-Projekt unter künstlerischer Leitung von 431art in Kooperation mit der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Niederrad und der Medienwerkstattinitiative (MEWI) e.V. ist wie eine Art großangelegtes und multidimensionales Rollenspiel. Die Teilnehmenden treffen sich zunächst zu einem dreitägigen Workshop, dann folgt ein Kurs über 20 Wochen und zum Abschluss eine 10-tägige Intensivwoche. Die Kinder und Jugendlichen gehen auf Erkundungstour in Niederrad. Sie lauschen, sie fühlen, sie führen Interviews, sie werden selbst zu Darstellenden der Geschichte. Sie führen eigens konzipierte Theaterszenen im Elli-Lucht-Park auf und geben Geschichte(n) weiter. Und sie sind am Ende auch die Stimmen des Audiowalks, der bereits seit Mai 2023 per App für alle Menschen erlebbar ist.
Ein Projekt für jeden Lerntyp
Das Projekt beginnt zu Pandemiezeiten, zunächst über Online-Meetings. Die Teilnehmenden erhalten persönlich überbrachtes Bastelmaterial, sie falten Origami-Schildkröten zuhause oder erkunden Stadtteile in kleinen Teams. Sie lassen sich auf Wahrnehmungsaufgaben ein und führen sich gegenseitig mit geschlossenen Augen von A nach B, sie schärfen die Sinne und nehmen ihre Umgebung wahr. Dabei berücksichtigen Haike Rausch und Torsten Grosch die unterschiedliche Herangehensweise jedes und jeder Einzelnen. „Es gibt die auditiven, die haptischen oder die kognitiven Lerntypen. Wir wollen alle einbeziehen“, so Torsten Grosch. Haike Rausch ergänzt: „Wir geben das Konzept und eine gewisse Struktur vor und bieten dann verschiedene Aufgaben an – gestalterische, darstellende oder recherchierende –, wobei alle an allen Projektphasen teilnehmen.“
Die Stadt als Kulisse und Material
Der Frankfurter Stadtteil Niederrad ist der Schauplatz dieser lebendigen Zeitreise von 1151 bis 2022. Sie führt unter anderem vorbei am Frauenhoftor, am Licht- und Luftbad oder der ehemaligen Pferderennbahn und erzählt vor allem von den Menschen, die das Stadtbild prägten, von der Wäscherin, vom König, vom Städteplaner und vom Suppenfabrikanten. Haike Rausch erklärt: „Niederrad ist aufgrund seiner Besonderheiten als Stadtteil sehr interessant für dieses Projekt.“
Dennoch versteht sich das Künstlerduo nicht als Geschichtsvermittler. Vielmehr steht im Vordergrund immer das gemeinsame künstlerische Arbeiten, die interdisziplinären Aufgaben, das darstellende Spiel, das Heranführen an Intonation, Gestik, Mimik, die Ausgestaltung der Ergebnisse in der Gruppe. Torsten Grosch beschreibt es so: „Wir schaffen einen Raum, in dem Neues entstehen kann. Die Teilnehmenden entdecken ihr Umfeld, vor allem aber erfahren sie ihre Selbstwirksamkeit. Es werden auf einmal Zugänge geschaffen, die vorher nicht da waren. Sie selbst stehen an erster Stelle dieses Projekts. Der Ort ist dabei unser Material.“
Und warum Schildkröten? Was bedeutet Zickzackhausen?
Der Titel des Projekts ist bewusst so gewählt, um Neugierde zu wecken. Alle möchten wissen: „Was hat es mit den Schildkröten auf sich?“ „Und wieso Zickzackhausen?“ Die Auflösung: Die Firma Lacroix fertigte in den 1950er Jahren in Niederrad Schildkrötensuppe. Diese schwammen in großen Wasserbecken oder liefen auf dem Hof der Firma umher, bevor sie zu Suppe verarbeitet wurden. Das Projekt lässt die Teilnehmenden ins Geschehen eintauchen: „Wie könntet ihr die Schildkröten aus der Fabrik befreien?“ Es entsteht nicht nur die erste „Befreiungsgruppe Niederräder Wasserschildkröten“, sondern auch eine Geschichte hinter der Geschichte. Fakt und Fiktion verschwimmen innerhalb der Geschichten des Audiowalks. So erkunden die Teilnehmenden auch die Siedlung Bruchfeldstraße, die wegen ihrer auffälligen Fassade „Zickzackhausen“ genannt wird. Der Architekt Ernst May baute sie in den 1920er Jahren mit der Vision eines „neuen Frankfurt“ und besseren Lebens für die Menschen der Stadt.
Geschichte als gelebte Erfahrung
Die Erkenntnisse aus der Projektarbeit lassen die Teilnehmenden immer wieder staunen: „Wow. Ich lebe hier. Aber das wusste ich ja gar nicht!“ – Jetzt schon. Denn einen kleinen Ausschnitt der Geschichte haben die Schülerinnen und Schüler nun selbst erlebt. So viel ist sicher: Die Schildkröten von Niederrad wird hier wohl niemand mehr vergessen.