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Zwischen Rücksicht und Freiheit: Werte in der Krise

Freundschaft, Solidarität, Selbstbestimmung. Was passiert mit den Werten unserer Gesellschaft in Krisenzeiten? Junge Menschen aus Berlin-Neukölln haben in einem Online-Ferienangebot kreative und persönliche Antworten auf diese Frage gefunden.

In den vergangenen Monaten wurde schnell klar: Das Corona-Virus ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Die Pandemie und ihre Folgen stellen auch unsere Werte auf den Prüfstand. Wie ausgeprägt sind Rücksichtnahme und Solidarität? Sind Freiheit und Autonomie in Gefahr? Welche Bedeutung haben Freundschaft und Familie in der Krise? Mit Fragen wie diesen haben sich junge Menschen aus dem Berliner Stadtteil Neukölln während der Osterferien auseinandergesetzt – über Schauspiel, kreatives Schreiben und Filmarbeit, jede und jeder bei sich zu Hause, verbunden über Smartphones. Das mit den beiden Bündnispartnern Jugend-, Kultur- und Werkzentrum Grenzallee und Young Arts Neukölln als Präsenzkurs geplante „talentCAMPus“-Projekt der Otto-Suhr-Volkshochschule wurde gemeinsam mit der Kursleitung kurzfristig in ein Online-Angebot umgewandelt. Dabei stimmte sich das Bündnis eng mit dem Deutschen Volkshochschul-Verband ab, über den das Projekt gefördert wurde. „Wir wollten für die Kinder und Jugendlichen gerade in diesen Zeiten da sein und sie in ihrer aktuellen Lebenssituation abholen“, sagt Projektleiter Martin Grafe von der Volkshochschule in Neukölln. „Mit großem Enthusiasmus und Engagement, vor allem auch seitens der künstlerisch-pädagogischen Leitung, haben wir in nur eineinhalb Wochen das Konzept angepasst und eine digitale Lernumgebung gestaltet.“

Schauspielunterricht via Videokonferenz: Bildschirmfoto einer Videokonferenz mit mehreren Teilnehmenden, die verschiedene Emotionen spielen.
Schauspielunterricht via Videokonferenz © 2020 „talentCAMPus“ Berlin-Neukölln

Lernerfahrungen auf allen Seiten

Für Theaterregisseurin Elsa Vortisch und Schauspieler Arndt Wille, zwei der insgesamt vier Kursleitenden, war die Umstellung auf den Online-Kurs herausfordernd und bereichernd zugleich. „Wir haben uns im Vorfeld viele Gedanken darüber gemacht, was an Aufgaben und Übungen möglich ist und was nicht. Auch die Technik haben wir vorab getestet“, erzählt Arndt Wille. „In der praktischen Umsetzung gab es trotzdem einige, vor allem technische Hürden zu meistern. Wir haben in diesen Tagen viel dazugelernt.“ Seine Kollegin Elsa Vortisch ergänzt: „Anders als bei Präsenzkursen sind schnelle Reaktionsspiele oder Improvisation online kaum möglich. Da mussten wir Alternativen finden. Die Teilnehmenden haben verstärkt individuell gearbeitet, zum Beispiel einzelne Videosequenzen aufgenommen oder Animationen erstellt. Durch den Schnitt von Aufnahmen konnten wir aber auch Dialoge gestalten.“

Die Kursleitenden hatten Präsentationen, Lernvideos und interaktive Quizze zu Filmwissen und Storytelling, Schauspieltechnik und Video-Apps vorbereitet. Die einzelnen Tage waren klar strukturiert: Am Vormittag und Nachmittag gab es jeweils einen Kursblock, in dem die Teilnehmenden aber nicht ununterbrochen vorm Bildschirm saßen. „Sie verbringen durch Homeschooling und Kontaktbeschränkungen ohnehin schon viel Zeit am Handy. Wir haben daher auch viele Aufgaben gestellt, für die man das Smartphone nicht benötigt, und uns dann per Videokonferenz über die Ergebnisse ausgetauscht“, erklärt Arndt Wille. „Es hat uns wirklich positiv überrascht, wie engagiert die Gruppe mitgemacht hat.“

Austauschschülerin Anna in der Isolation: Zeichnung eines Teilnehmenden zeigt Anne allein in ihrem Zimmer im Bett.
Austauschschülerin Anna in der Isolation © 2020 „talentCAMPus“ Berlin-Neukölln

Rollenspiele und Perspektivwechsel

Für die Kinder und Jugendlichen bot der Kurs mehr als Ablenkung vom Alltag in der Krise. Sie erhielten die Chance, die Situation auf kreative und spielerische Weise zu verarbeiten. „Unser Ansatz dabei war, sich dem Thema nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus der Sicht anderer zu nähern“, erläutert Kursleiterin Vortisch. „Wir haben uns zum Beispiel mit der wahren Geschichte der deutschen Austauschschülerin Anna in Neuseeland beschäftigt, die wegen eines Corona-Verdachts ihr Zimmer nicht mehr verlassen durfte.“ Die Jungen und Mädchen im Kurs haben aus Annas Sicht Tagebucheinträge verfasst. Ebenso entstanden Zeichnungen, animierte Bilder und ein Film zur Frage der Werte, die in Annas Fall eine Rolle spielen. In andere Rollen schlüpften die Teilnehmenden auch bei „Aufreger-Monologen“, die es ihnen erlaubten, einmal Aggressionen abzulassen oder das Thema mit Humor zu betrachten. So etwa beim Spielen eines Händewasch-Fanatikers oder eines Machos, der in Corona-Zeiten das Flirten neu erfindet. In imaginären Dialogen mit Außerirdischen haben sie zudem ihre ganz eigenen Definitionen von Mut, Liebe oder Familie formuliert.

Ein Blick in Richtung Sommer

Im Rückblick zieht das „talentCAMPus“-Team in Berlin-Neukölln eine positive Bilanz. „Auch das Feedback der Teilnehmenden fiel gut aus. Sie waren sehr froh, dass wir den Kurs überhaupt durchgeführt haben. Ebenso haben sich Eltern dafür bei uns bedankt“, berichtet Regisseurin Vortisch. Im Vorfeld hatten die Kursleitenden mit persönlichen Briefen und Anrufen für das Angebot geworben. Doch nicht alle waren von der digitalen Variante zu überzeugen. „Wenn wir einen weiteren Online-Kurs anbieten, könnten die jetzigen Teilnehmenden als Multiplikatoren wirken“, hofft Arndt Wille. Auch Martin Grafe schaut schon in Richtung Sommerferien: „Wir möchten ein Angebot planen, das wir zunächst online denken, das sich je nach Lage aber auch offline umsetzen ließe. Denn die Volkshochschulen und der ‚talentCAMPus‘ sind Orte der Integration, Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Digitale Kurse ergänzen unsere Präsenzangebote sinnvoll, gerade in diesen Zeiten, aber sie können echte Begegnungen nicht ersetzen.“

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Weitere Bündnispartner im Neuköllner „talentCAMPus“-Projekt waren neben der Otto-Suhr-Volkshochschule das Jugend-, Kultur- und Werkzentrum Grenzallee und das Kunst- und Kreativzentrum Young Arts Neukölln, die unter normalen Umständen Räumlichkeiten und Sachmittel für das Projekt zur Verfügung gestellt hätten. Gefördert wurde das Angebot vom Deutschen Volkshochschul-Verband, Programmpartner bei „Kultur macht stark“. In den bundesweiten Ferienangeboten ermöglicht der Verband Kindern und Jugendlichen, ihre kulturellen, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten zu stärken.

Mehr Informationen zum „talentCAMPus“ erhalten Sie auf der Website des Deutschen Volkshochschul-Verbandes.