Mission „Wecke die Leselust!“
Das Lesen Spaß machen kann, erfahren Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis zwölf Jahren im Leseclub der Stadtbücherei Rüsselsheim. Junge Ehrenamtliche helfen der Bibliothekarin Eva Süßmilch dabei, Kinder für das Lesen zu begeistern.
Dass sich ihr ehrenamtliches Engagement im Leseclub „Bücher-Plancke“ eines Tages auf ihre berufliche Zukunft auswirken würde, hätte Roza Söylemez (23) sich nicht träumen lassen. Sie hatte sich nach dem Abitur zuerst für ein Jurastudium entschieden, etwas Solides sollte es sein. „Und obwohl ich sogar gut darin war, habe ich gespürt, dass die Welt der Paragrafen nicht ganz die meine ist. Ich möchte mit jungen Menschen zu tun haben. Schon als Schülerin habe ich erlebt, dass ich das gut kann“, schildert die 23-Jährige, die inzwischen Erziehungswissenschaften im Masterstudiengang belegt hat. Vor fast sieben Jahren wurde die damalige Gymnasiastin der Max-Planck-Schule von ihrer Ethiklehrerin gefragt, ob sie sich im Leseclub engagieren wolle. Das Projekt der „Stiftung Lesen“ wird in Kooperation mit den Bündnispartnern Stadtbücherei Rüsselsheim und der Max-Planck-Schule durchgeführt. „Ich habe schon immer gern gelesen, ging in der Bibliothek ein und aus. Zudem kann ich gut mit Kindern umgehen, also dachte ich, das probiere ich aus“, erinnert sich die junge Frau.
Ehrenamt verlangt Kontinuität und Verlässlichkeit
Eva Süßmilch, stellvertretende Leiterin der Stadtbücherei, kam schon vor vielen Jahren auf die Idee, sich an weiterführende Schulen zu wenden, um Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen für ihre Mission, die Leselust bei Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren zu wecken. „Es gibt nicht so viel Unterstützung durch ehrenamtliche Kräfte, wie man vermuten würde. Sie wünscht sich kontinuierliches und verbindliches Engagement. Gern von jungen Rollenvorbildern, wie etwa Oberstufenschülerinnen oder -schülern. „Es bewirkt bei den Kindern unglaublich viel, wenn sie Jugendliche erleben, die ihnen vorlesen und Bücher empfehlen“, sagt Eva Süßmilch. „Bei uns in Rüsselsheim, wo Menschen aus vielen Nationen zusammenleben, gibt es eine Reihe von Familien, die ihre Kinder zu Hause kaum an Bücher heranführen – etwa, weil sie es selbst in ihrer Kindheit nicht kennengelernt haben oder auch, weil sie die deutsche Sprache nicht sprechen.“
Eva Süßmilch ist es eine Herzensangelegenheit, mit der Kinder- und Jugendabteilung der Bücherei einen Ort der Lesefreude zu schaffen. Dort fühlen sich die Kinder angenommen und auf eine Art auch geborgen in der Welt der Bücher. Die farbenfrohen Möbel aus weichen Stoffen in der Stadtbücherei sorgen für eine gemütliche Atmosphäre. Getragen wird das Projekt von einem dichten Netz aus Kooperationspartnern – vom Ausländerbeirat der Stadt über diverse Schulen und Kindergärten.
„Wir schaffen einen entspannten Zugang zum Buch“
Für Roza Söylemez, die schon immer gern gelesen hat, war es eine ungewöhnliche Erfahrung, dass sich die Kinder nicht gleich auf die Bücher stürzten. „Für viele Kinder, die zu uns kommen, hat das Lesen zunächst einen schulischen Charakter und ist nicht wirklich beliebt. Deshalb sorgen wir für einen entspannten Zugang zu Büchern“, beschreibt Roza Söylemez. Sie hat im Laufe der Zeit einige Methoden entwickelt, um „kleinen Leseverweigerern“ doch den Zugang zu erleichtern. Dabei legt sie vor allem darauf Wert, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Sie fragt nach deren Hobbys, malt oder bastelt mit ihnen, um das Eis zu brechen. „Manchmal lege ich aber auch nur die Bücher hin, ganz ohne Aufforderungscharakter. Dann werden sie neugierig“, schildert die Studentin. Es funktioniert auch, wenn sich die 23-Jährige lesend zu den Kindern gesellt, „auch dann kommen sie mit Fragen“. Roza Söylemez steht übrigens auch Eltern zur Verfügung, die sich Lektüre-Tipps für ihre Kinder abholen können.
Kinder aus geflüchteten Familien in die Bücherei gebracht
Als im Jahr 2015 auch viele Menschen mit Fluchterfahrung nach Rüsselsheim kamen, sorgte Roza Söylemez dafür, dass die Kinder aus den Unterkünften für Geflüchtete den Weg in die Stadtbücherei fanden. „Es half, dass mein Vater dort als Hausmeister tätig war und ich über ihn einen Zugang zu den Bewohnerinnen und Bewohnern bekam. Die Eltern hatten also keine Sorge, mir ihre Kinder anzuvertrauen“, schildert die 23-Jährige. In kleinen Gruppen brachte sie damals die Kinder in die Bibliothek – und eröffnete auch manchen Eltern damit eine Perspektive. „Damals wurde mir klar, dass für die geflüchteten Menschen die Bücherei wie eine Institution wirkt – sie wussten nicht, dass jeder dort eintreten kann. Sie mussten eine Art Schwellenangst überwinden.“ Wenn Roza Söylemez heute an der Ausleihe sitzt und Kinder aus diesen Familien mit einem Buch in der Hand wiedertrifft, macht sie das richtig glücklich.
Eva Süßmilch schätzt es sehr, dass Roza Söylemez sich auch als Studentin ehrenamtlich engagiert. „Sie hat ein Talent für die Arbeit mit Kindern. Dank ihr haben viele den Weg zu uns gefunden, die sonst nicht den Zugang zu einer Bibliothek gesucht hätten. Roza war unglaublich aktiv und hat einen wichtigen Beitrag zur Integration geleistet.“ Deshalb hat die Bibliothekarin die junge Frau für den Come-Together-Preis des Kreises Groß-Gerau vorgeschlagen. Er zeichnet Menschen aus, die sich gegen Diskriminierung und für Teilhabe sowie Chancengerechtigkeit einsetzen. 2019 ging der Preis an Roza Söylemez. Für die Bibliothekarin ist „Bildungsgerechtigkeit“ das Schlüsselwort für den Erfolg des Leseclubs: „Wir geben den Kindern, die zu uns kommen, Unterstützung, um den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und persönlichem Bildungsweg abzuschwächen. Nur wer lesen kann, hat Chancen auf einen schulischen und beruflichen Erfolg.“