„Kulturelle Bildung erlebt einen Digitalisierungsschub“
Judith Ackermann ist Professorin für digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie sprechen wir mit ihr über die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung.
Durch die Covid-19-Pandemie konnten Bildungsangebote in Schulen und im außerschulischen Raum häufig nicht mehr als Präsenzveranstaltung stattfinden und wurden in den digitalen Raum verlagert. Können diese Angebote die gleichen Inhalte und Kompetenzen vermitteln?
Prof. Dr. Judith Ackermann: Ich glaube, dass es weniger darum geht, die identischen Inhalte und Kompetenzen zu vermitteln, als darum, neue Zugänge und Räume für Bildungsangebote zu schaffen. Die Covid-19-Pandemie wird uns nicht immer begleiten, aber die mit ihr verbundene spontane Notwendigkeit einer radikalen digitalen Transformation von Arbeits- und Bildungsprozessen auf zahlreichen Ebenen hat einen Möglichkeitsraum für die Gestaltung und Erprobung entsprechender Formate eröffnet. Dass Präsenzveranstaltungen dabei nicht eins zu eins vom Physischen ins Digitale übertragen werden können, haben vermutlich alle Anbietenden von Bildungsangeboten während des Lockdowns recht schnell gemerkt. Es war aber interessant zu sehen, welch dynamische Entwicklungen diese Erkenntnis befördert hat und wie partizipativ die Gestaltungsprozesse abgelaufen sind: Eine derart konsequente Umstellung auf digitale Angebote war ja nicht nur für Lehrende sondern auch für Lernende eine Neuerung und dies bot die Chance, dass gemeinschaftlich experimentiert wurde, wie dieses Lernen möglichst effizient und erfüllend gestaltet werden kann. Mein Eindruck ist, dass viele von uns darüber an einem Punkt gelangt sind, an dem sie die Vor- und Nachteile der Methoden bzw. Kommunikations- und Begegnungsebenen im digitalen und physischen Raum gleichberechtigt für die Gestaltung attraktiver Bildungsangebote in Erwägung ziehen können, um Inhalte und Kompetenzen bestmöglich zu vermitteln. Dies stellt eine Fähigkeit dar, die unseren Handlungsspielraum im Rahmen der Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen deutlich erweitert.
Welche Chancen sehen Sie speziell für die Vermittlung kultureller Bildung? Wie können etwa Apps und Games zu einem Mehr an kultureller Bildung beitragen?
Digitale Medien bringen per se neue kulturelle Phänomene und Kulturtechniken hervor. Zusätzlich schaffen digitale Kommunikationskanäle und Plattformen Räume für die Auseinandersetzung mit und die Aneignung von kulturellen Artefakten. Gerade in der damit einhergehenden Begegnung zwischen neueren und traditionelleren Kulturtechniken steckt immenses kreatives, vermittelndes und partizipatives Potenzial. Aktuell sehen wir etwa an den Theatern und Museen einen regelrechten Digitalisierungsschub in Bezug auf Vermittlungs- und Teilhabeaktivitäten, der die physische Präsenz am konkreten Kulturort zugunsten einer räumlich und zeitlich flexiblen Erfahrbarkeit aufzulösen sucht. Hier bieten Apps und Games gute Chancen, die Auseinandersetzung mit kulturellen Artefakten über die Anwesenheit am konkreten Kulturort hinaus zu erweitern und mit der eigenen Lebenswelt zu verknüpfen. Auf diese Weise können Formate der kulturellen Bildung auch solche Personen erreichen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht an einen physischen Kulturort begeben können oder möchten. Hier können ansprechend gestaltete digitale Formate auch in einer scheinbar vollständigen Entkopplung von ihrem Entstehungsanlass Nutzungsszenarien finden und somit einen niedrigschwelligen Zugang für die generelle Auseinandersetzung mit und die Teilhabe an Kultur schaffen.
Wo sehen Sie die Grenzen dieser Angebote?
Die Grenzen entsprechender Angebote sind sicherlich zunächst abhängig von der Kreativität und Kompetenz der Formatschaffenden, ihrer finanziellen wie infrastrukturellen Ressourcen und der Aneignungsbereitschaft der angesprochenen Zielgruppen. Aus meiner Sicht bergen hybride Formen und Formate, welche digitale mit physischen Anteilen verbinden, die größten Potenziale für die kulturelle Bildung, weil sie sich die Flexibilität erhalten, nicht von vornherein einen Vermittlungsweg kategorisch abzulehnen und somit digitale mit physischen Erfahrungsebenen auf eine Weise verbinden können, die dem zu vermittelnden Anliegen bzw. Thema bestmöglich entspricht. Damit gehen potenziell auch eine größere Niedrigschwelligkeit und Zugänglichkeit der Angebote einher.
Welche Rolle spielt die Technik – 95 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren besitzen ein Smartphone, aber nur rund 65 Prozent einen Computer/Laptop. Sind die digitalen Angebote im Bereich kulturelle Bildung darauf zugeschnitten?
Mehr noch als der reine Gerätebesitz stellt die vorhandene Netzinfrastruktur eine Herausforderung für digitale bzw. digital erweiterte kulturelle Bildung dar. Die in vielen Bereichen stattgefundene reindigitale Umsetzung von Bildungs- und Arbeitsaktivitäten während der Corona-Pandemie hat gezeigt, dass in Familien mit mehreren schulpflichtigen Kindern und/oder Haushalten mit mehreren Personen, die in ihrem Berufsalltag regelmäßig Videokonferenzen abhalten, eine parallele Auseinandersetzung mit datenintensiven digitalen Anwendungen meist kaum möglich ist. Daraus ergibt sich für Angebote der kulturellen Bildung die absolute Notwendigkeit einer zeitlichen Flexibilisierung ihrer Wahrnehmung und der kritischen Befragung hinsichtlich der Notwendigkeit datenintensiver Prozesse bzw. die konsequente Berücksichtigung einer Individualisierbarkeit in Bezug auf Datenreichhaltigkeit. Dies kann etwa durch die Integration autarker Erfahrungsebenen umgesetzt werden, etwa in Form von Formaten, die als Bewegtbild funktionieren, sich aber gleichermaßen rein auditiv und/oder auf Basis von Schrift erfahren lassen.
Was empfehlen Sie Pädagoginnen und Pädagogen, die bislang eher nicht so technikaffin waren?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass digitale Kanäle eine Vermittlungsform von vielen sind und keinen Gegensatz zu physischen Angeboten darstellen, sondern vielmehr ihrer Erweiterung und Anreicherung dienen, welche insbesondere eine Diversifizierung der erreichten Personen und eine Ausweitung der verhandelten kulturellen Themen bewirken kann. Dies im Hinterkopf zu halten erlaubt es, unbefangener mit der Integration digitaler Aspekte in kulturelle Bildungsformate umzugehen, sich von dem Druck einer hundertprozentigen Digitallösung zu befreien und sich beispielsweise darauf einzulassen, dass digitale Anteile verstärkt auch von den Teilnehmenden selbst gestaltet werden.
Vor welchen Herausforderungen stehen Pädagoginnen und Pädagogen bei digitalen Angeboten, wenn es um Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit eher beschränktem Zugang zu Bildung geht?
Wenn es um die Akzeptanz von Bildungsangeboten geht, ist es eine der zentralen Herausforderungen, Angebote zu kreieren, die unterschiedliche Einstiegswege zulassen. Für Formatschaffende ist es wichtig zu wissen, auf welchen Plattformen bzw. über welche Kanäle die Kinder und Jugendlichen zu erreichen sind, um diese gezielt für die Erstellung digitaler Angebote einzubinden. Bildungsformate können erstmal überall platziert werden, aber es ist wichtig, die Spezifitäten der einzelnen digitalen Räume bzw. Plattformen zu kennen, um dafür passende Aktivitäten zu entwickeln. Wenn kulturelle Bildung alle erreichen will, muss sie sich zu den Menschen hinbewegen. Digitale Kanäle können einen direkten und niedrigschwelligen Weg darstellen, um dies zu tun. Mit einer solchen Hinbewegung ist immer auch eine Einladung zur Partizipation verbunden, die gerade für Personen mit wenig Berührungspunkten zu klassischen Formaten und Orten der kulturellen Bildung einen wichtigen Startpunkt darstellen kann.
Hat sich aus Ihrer Sicht der Digital Gap in den letzten Monaten verkleinert oder eher verfestigt? Wie lassen sich gemessen an den Erfahrungen der letzten Zeit die digitalen Bildungschancen insgesamt verbessern?
Die letzten Monate haben deutlich gezeigt, dass (digitale) Veränderung im Bildungssektor möglich ist, wenn wir es wollen. Ich würde nicht so weit gehen, von einer derart kurzen Phase unmittelbare Auswirkungen auf die verschiedenen Teilaspekte des Digital Gaps zu erwarten, jedoch kann sie meiner Meinung nach durchaus als individuelle Bestandsaufnahme mittelbar auf diesen einwirken, indem die Spiegelung der eigenen digitalen Kompetenzen durch die erfolgreiche bzw. weniger erfolgreiche Partizipation an bzw. Gestaltung von digitalen Bildungsformaten persönliche Bedarfe in Bezug auf eine gegebenenfalls notwendige Steigerung der digitalen Kompetenz sichtbar macht und einen Anreiz für ihre Ausweitung liefert. Die Frage ist, welche digitalen Bildungserfahrungen wir uns nach der Rückkehr in einen verstärkten Präsenzbetrieb erhalten. Es ist wichtig, das potenziell transformative Moment dieser Phase für die (kulturelle) Bildung nun nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn wie wir dieses in den „Regelbetrieb“ nach der Pandemie integrieren, wird entscheidenden Einfluss auf zukünftige digitale Bildungschancen haben.