Horizonterweiterung in Nordfriesland
Die SommerWerkstatt Eiderstedt war ein Angebot des Lernsommers SH: Auf der nordfriesischen Halbinsel verknüpfte ein „Total digital!“-Bündnis intensives Naturerleben und Handwerkskunst mit digitaler Recherche, Hörspielproduktion und Fotografie.
„Was hier im Juli und August passiert ist, ist für eine ländliche Region wie unsere Halbinsel einzigartig. Der Lernsommer war so toll, dass die Kinder jetzt schon mit fragen, wann es weitergeht.“ Projektkoordinatorin Therese Zink, im Bereich Beratung und Bildung beim „Familienzentrum Tönning“ tätig, verfolgte in der „SommerWerkstatt Eiderstedt“ mit, wie Kinder und Jugendliche mit erschwertem Zugang zu kultureller Bildung neue und bereichernde Erfahrungen in und mit ihrer Region machen konnten.
Nach langen Monaten mit viel Unterrichtsausfall aufgrund von Corona standen auch in der Wattenmeerregion die Sommerferien bevor. Um etwaige Bildungslücken zu schließen und zu verhindern, dass Kinder aus Elternhäusern mit erschwertem Zugang zu Bildung weiter zurückfallen, startete das Land den „Lernsommer Schleswig-Holstein 2020“. Ergänzend zu fächerbezogenen Angeboten an den beteiligten Schulen gab es im Lernsommer auch kreative Angebote, in denen überfachliche Kompetenzen, persönliche und soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler gefördert wurden. Flankiert wurden sie durch die „Kultur macht stark“-Projekte, die in kürzester Zeit für den Lernsommer auf die Beine gestellt wurden.
In Tönning fand sich ein Kultur-macht-stark-Bündnis aus Diakonischem Werk, Stadtbücherei und der Eider-Treene-Gemeinschaftsschule zusammen, das von vielen weiteren Akteurinnen und Akteuren sowie engagierten Ehrenamtlichen unterstützt wurde. Gemeinsam entwarf und organisierte das Team die neun Kurse der „SommerWerkstatt Eiderstedt“. Sie sollten kulturelle, landschaftliche und historische Besonderheiten der Dünen- und Wattenmeerregion vermitteln sowie bewusstes Naturerleben und die Medienkompetenz der Kinder stärken. Sachkundige Expertinnen und Experten fand man vor Ort: den Diplom-Historiker, der auch Bogenbauer ist und gern historische Themen recherchiert; den Wattführer, der jedes Tier und jede Pflanze im Ökosystem kennt und außerdem Künstler ist; die Meisterin der örtlichen Keramiktradition; ökologische und pädagogische Fachleute und den engagierten Schulbusfahrer, der trotz Ferien bereit war, die Kinder zu den über die Insel verstreuten Kursen zu bringen und abzuholen.
Die durch den Deutschen Bibliotheksverband e.V. im Rahmen von „Total Digital“ geförderten Werkstätten, Bildungs- und Erlebnisangebote waren sofort ausgebucht. Einige fanden in der Schule oder, mit den digitalen Geräten der geschlossenen Bibliothek, in gebotenem Abstand an Tischen im Freien statt. Für andere Kurse wanderten die Kinder gruppenweise durchs Watt, den Wald oder über die Wiesen des Erlebnisbauernhofs. Dort lernten sie Kräuterschnuppern und -raten und die Herstellung von Kräuterseife, aber auch landwirtschaftliche Techniken wie Stallausmisten. In der Farben- & Formen-Malwerkstatt wurden zunächst Tischkultur und traditionelle Keramikmuster unterrichtet, dann eigene Becher und Müslischalen hergestellt. Die Stadtwerkstatt-Gruppe programmierte mithilfe einer App eine digitale Schnitzeljagd und stellte einen Onlineplan mit den schönsten Kinderplätzen auf Eiderstedt zusammen. In der Kommunikationswerkstatt lernten die Teilnehmenden durch Gestaltung eines gemeinsamen Hörspiels, über Gefühle wie Mut oder Angst zu sprechen.
Am begehrtesten war die einwöchige Bogenbau-Werkstatt. Zuerst forschten die Teilnehmenden mit den Tablets aus der Bücherei im Internet nach unterschiedlichen Bogentypen und Bauanleitungen. Dann baute jeder sich mit Unterstützung durch den handwerklich geschickten Historiker seinen Wunschbogen. Erste Schießübungen folgten. Nun hieß es: sich konzentrieren, die Körpermitte finden, zielen – und Treffer! Therese Zink erlebte, wie die Verbindung aus digitaler Recherche, handwerklich-kreativer Arbeit und körperlicher Geschicklichkeitsübung zur Persönlichkeitsbildung beitrug: „Wenn man die Jugendlichen am Anfang der Woche gesehen hat und dann zum Schluss: Wie die sich verändert haben! Wo zu Beginn eher herabhängende Schultern zu sehen waren, entdeckten die Teilnehmenden ihre Körperspannung beim Schießen. Dazu entwickelten sie Ehrgeiz beim handwerklichen Geschick und waren sehr fleißig bei der Online-Recherche der Bogentypen. Die SommerWerkstatt war ein Volltreffer!“ Nach nur fünf Tagen war auch dieser Kurs vorbei. Doch in der nächsten Woche standen weitere Kinder vor der Tischlerwerkstatt, die ebenfalls Bögen schnitzen wollten. Binnen kurzem wurden ein weiterer Kurs und eine zusätzliche Gesprächsrunde organisiert.
Beeindruckt hat Therese Zink auch die Veränderung eines sehr schüchternen Kindes aus einer Jugendhilfeeinrichtung, das zu Beginn der Kommunikationskurswerkstatt immer am Rand stand. „Durch die Rollenarbeit für das Hörspiel – es sollte einen gefährlichen Drachen spielen – verwandelte es sich innerhalb einer Woche in einen selbstbewusstes, aus sich heraus gehendes Kind.“ In der Erlebniswerkstatt Wattenmeer wurde eine mehrstündige, anstrengende Wanderung für eine Gruppe Teenager aus geflüchteten Familien trotz heftiger Windböen, Dauerregen und unpassendem Schuhwerk zu einer positiv prägenden Erfahrung. Als Küstenkind weiß Therese Zink: „Als Einzelne wäre jedes dieser Mädchen verzweifelt. Aber gemeinsam waren sie stark. Sie haben ihre neue Heimat auf eine Weise erlebt, die sie nie vergessen werden und sind jetzt ganz intensiv mit Eiderstedt verbunden.“
Für Urlaubsgäste sind die Nordseeküste und das zum Weltkulturerbe ernannte Wattenmeer der Halbinsel Eiderstedt ein anziehendes Sommerferienziel. Aber viele Familien in der Region können sich geführte Wattwanderungen oder Kulturangebote, die den Erfahrungshorizont ihrer Kinder erweitern würden, finanziell nicht leisten. Mit der „SommerWerkstatt Eiderstedt“ gab es erstmals einen Monat lang ein nachhaltiges, breitgefächertes Erlebnis- und Kreativprogramm für Kinder und Jugendliche aus Jugendhilfeeinrichtungen und Familien mit erschwerten Zugangsmöglichkeiten zu digitaler und kultureller Bildung.
Am letzten Projekttag wurden Angehörige, Freundinnen und Freunde zu einer imaginären Reise durch die Sommerkurse in die Stadthalle eingeladen: Sie begann mit einer professionellen digitalen Präsentation der schönsten Fotografien. Die Live-Aufführung des selbst geschriebenen Hörspiels mit Theaterszenen „Der magische Zauberwald“ war der Höhepunkt. Für den Herbst hat das Eiderstedter Bündnis die Finanzierung weiterer Workshops beantragt.