Genuss statt Muss – das Lesen neu entdecken
Wie lässt sich bei Mädchen und Jungen die Lust am Lesen wecken? Ina Brendel-Perpina, Professorin an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, und Studentin Christiane Schmidt im Gespräch über die Arbeit mit Kindern im Leseclub.
Frau Prof. Dr. Brendel-Perpina, Sie setzen sich seit Langem für die Leseförderung inner- und außerhalb der Schule ein. Warum fällt das Lesen vielen Kindern schwer?
Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina: Lesen ist ein hochanspruchsvoller Prozess. Man muss einerseits wissen, wie man einem Text Informationen entnimmt. Andererseits geht es darum, eine persönliche Bedeutung des Lesens auf emotionaler Ebene zu erfahren. Das ist insbesondere bei der Lektüre fiktionaler Texte wichtig. Die Motivation, diesen komplexen Prozess in Gang zu setzen, ist an das Interesse zu lesen gebunden – und daran scheitert es oft. Vielen Kindern fehlen lesekulturelle Fähigkeiten, etwa verschiedene Textsorten zu kennen und für sich passende Bücher auszuwählen. Das ist oftmals so, weil in vielen Familien eine anregende Leseumgebung fehlt; rund einem Drittel der Kinder wird nie vorgelesen. Schule und andere Institutionen der Leseförderung müssen dem entgegenwirken, aber diese fehlende Grundlage ist nur schwer zu ersetzen. Hinzu kommt, dass Kinder Lesen häufig ausschließlich als Mittel, um zu lernen, wahrnehmen. Diese Einschränkung ist wenig förderlich für die Lesemotivation.
Ist das ein genderübergreifendes Phänomen oder sind Jungen stärker betroffen?
Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina: Tatsächlich haben Leistungsstudien festgestellt, dass Mädchen mehr und besser lesen. Das liegt auch daran, dass Lesen primär weiblich konnotiert ist. Die Aufteilung der Geschlechterrollen aus dem 18. Jahrhundert – informatorisches Lesen ist männlich, fiktionales Lesen ist weiblich – wirkt bis heute nach. Aus anderen Studien wissen wir auch, dass alternative Medien, etwa Filme oder Computerspiele, die Lesemedien bei vielen Jungen ersetzen, bei Mädchen dagegen eher ergänzen. Jungen können aber natürlich, wenn sie motiviert sind, genauso gut lesen wie Mädchen.
Während Ihrer Tätigkeit an der Universität Bamberg und nun an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt haben Sie im Bündnis mit der Stiftung Lesen und lokalen Bildungseinrichtungen mehrere Leseclubs initiiert. Wie kam es dazu?
Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina: Als die Stiftung Lesen 2013 ihr Engagement bei „Kultur macht stark“ begann, hatte ich mich mit dem Leseförderkonzept von Leseclubs schon jahrelang intensiv beschäftigt. Ich hatte gerade eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass diese Angebote bisher vor allem Mädchen an Gymnasien erreichten. Die Leseclubs der Stiftung Lesen nahmen nun gezielt Kinder in den Blick, die einen erschwerten Zugang zu Bildung haben. Eben haben wir über die Jungen gesprochen, aber das Geschlecht ist natürlich nur ein Faktor. Auch die soziale Herkunft und der kulturelle Hintergrund spielen bei der Lesesozialisation eine wesentliche Rolle. Das „Kultur macht stark“-Konzept der Stiftung Lesen fand ich daher vielversprechend und es entstand die Idee, dass die Hochschule Bündnispartner für einen Leseclub werden sollte, in dem Lehramtsstudierende die Betreuung übernehmen. Damit wollte ich auch die außerunterrichtliche Leseförderung stärker in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern integrieren.
Frau Schmidt, Sie waren als Lehramtsstudentin im vergangenen Wintersemester im Leseclub aktiv. Wie haben Sie die Zeit mit den Kindern gestaltet?
Christiane Schmidt: Der Leseclub in der Bücherei der Grundschule St. Walburg in Eichstätt findet am Nachmittag statt. Die Kinder haben also schon einen langen Schultag hinter sich. Wir – ein Team aus je zwei Studierenden – sind daher meist mit einem Warm-up in die Stunde gestartet, wie einer Büchersuche oder pantomimischen Ratespielen. Aktiv zu sein und sich zu bewegen, das kam gut an. Dabei haben wir jeweils auch an das Thema der vorherigen Stunde angeknüpft. Die Gruppe hat sich ein halbes Jahr lang mit der Buchreihe „House of Ghosts“ von Frank Maria Reifenberg beschäftigt, mit Abstechern zu anderen Gruselgeschichten. Im zweiten und längsten Teil der Stunde kamen wir im Sitzkreis zusammen. Wir haben den Kindern vorgelesen und sie angeregt, sich über ihr Verständnis der Geschichte auszutauschen. Den Abschluss bildete dann eine kreative Beschäftigung, zum Beispiel das Malen einer Szene. Ihre Ergebnisse haben die Teilnehmenden dann einander vorgestellt, was ihnen auch sehr gefallen hat.
Was ist Ihnen noch positiv aufgefallen? Wo lagen vielleicht auch Herausforderungen?
Christiane Schmidt: Beeindruckt hat mich, wie aufmerksam die Kinder beim Vorlesen und beim Austausch miteinander waren. Sie haben sich zum Beispiel gegenseitig inhaltliche Fragen beantwortet. Im Gedächtnis geblieben ist mir auch das Gemälde eines der jüngsten Teilnehmenden, der darin unglaublich viele Details aus einem Kapitel eingebaut hatte. Die Altersspanne der Mädchen und Jungen, von der zweiten bis zur vierten Klasse, war schon eine Herausforderung für uns. Die Lesekompetenz und Interessen waren entsprechend unterschiedlich. Und nicht für alle Kinder war Deutsch die Muttersprache, was sich beim Verstehen von Vorgelesenem und Sprechen zeigte. Wir mussten uns also vorab genau überlegen, wie wir alle ins Boot bekommen und weder überfordern noch langweilen. Positiv ist uns aber aufgefallen, dass die älteren Kinder die Jüngeren auch unterstützt haben, etwa beim Pantomimespiel.
Was nehmen Sie aus der Zeit im Leseclub mit für Ihre künftige Arbeit als Lehrerin?
Christiane Schmidt: Ich nehme auf jeden Fall wichtige Erfahrungen mit. Vor allem habe ich erlebt, wie förderlich es ist, die Kinder genau dort abzuholen, wo sie sich mit ihren Interessen und Fähigkeiten befinden. Man muss also sehr individuell auf die Gruppe und auf einzelne Kinder reagieren können – während einer Stunde und auch schon bei der Vorbereitung. Dann kann man spontan umdisponieren, wenn manche mehr Hilfe benötigen oder bei bestimmten Aufgaben schneller vorankommen.
Frau Prof. Dr. Brendel-Perpina, decken sich diese Erfahrungen mit Ihren Erkenntnissen aus anderen Leseclub-Projekten und der Forschung in diesem Bereich?
Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina: Ja, die Wirksamkeit von Leseclubs ist an einige Gelingensfaktoren geknüpft. Dabei haben sich drei Ansätze bewährt. Das ist zunächst das erlebnisorientierte Lesen in der Gruppe. Lesen wird verbunden mit abwechslungsreichen Zugängen und Aktivitäten wie Spielen oder Basteln. Das geht einher mit der Geselligkeit: Lesen ist im Leseclub kein einsamer Akt, man tauscht sich aus über Gedanken und Gefühle, die eine Geschichte auslöst. Bewährt hat sich zudem, die Arbeit in den Leseclubs als Projekte zu gestalten, sich also eine Zeit lang etwa mit Gruselgeschichten, dem Mittelalter im Kinderbuch oder wie in unserem aktuellen Projekt „books for future“ mit dem Thema Nachhaltigkeit zu befassen. Ausgangspunkt sind bei uns immer fiktionale Texte, aber dem Charakter von Lese- und Literaturprojekten entsprechend lassen sich themenbezogene Sachbücher und auch andere Medien wie Filme oder Apps einbinden. Der dritte wirksame Ansatz sind freie Stöberzeiten. Die Kinder können sich individuell Bücher heraussuchen und gegenseitig zeigen. All das regt an, Zugänge zu Lesewelten zu finden und Lesegenuss zu erleben.
Um noch einmal auf den Genderaspekt zurückzukommen: Benötigen Jungen und Mädchen unterschiedliche Angebote?
Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina: Am Anfang mögen die meisten Kinder spannende, lustige und fantastische Geschichten, erst mit zunehmendem Alter gehen die Interessen auseinander. Mädchen haben aber insgesamt breitere Interessen und sind daher leichter zu erreichen. Die realistische und anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur, die im Schulunterricht eine große Rolle spielt, spricht viele Jungen, vor allem bei fehlendem Leseengagement, dagegen eher weniger an. Mit dem Leseförderprojekt „boys & books“, das ich an unserer Universität leite, gehen wir bewusst einen anderen Weg: Wir bieten für junge männliche Leser ab acht Jahren Leseempfehlungen für populäre Kinder- und Jugendbücher, etwa neu erschienene Krimis, Comics oder Detektivgeschichten. Diese Titel finden auch Eingang in die Leseclubs im Rahmen von „Kultur macht stark“, denn die Kooperation mit der Stiftung Lesen ermöglicht es, die Leseclubs individuell mit aktuellen Medien auszustatten. Das Konzept, das wir insgesamt mit unserem Leseclub verfolgen, ist gendersensibel: Wir versuchen, die unterschiedlichen wie auch teilweise gemeinsamen Interessen von Jungen und Mädchen gleichermaßen zu beachten. Die Arbeit mit den Kindern im Leseclub sollte, wie auch Frau Schmidt sagte, immer stark an deren individuellen Interessen und Fähigkeiten ausgerichtet sein, um die Lust am Lesen nachhaltig zu fördern.