Der Sprecher der Autorengruppe des nationalen Bildungsberichts im Interview
Laut aktuellem Bildungsbericht ist fast jedes dritte Kind von Risikolagen betroffen, die den Bildungszugang erschweren. Wir befragen Prof. Dr. Kai Maaz vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.
Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen hängt stark von der sozialen und wirtschaftlichen Situation ihrer Familien ab. Welche Umstände machen es Kindern und Jugendlichen besonders schwer, einen erfolgreichen Bildungsweg zu absolvieren?
Prof. Dr. Kai Maaz: Es gibt natürlich nicht eine einzige Ursache für Bildungsungleichheiten. Meistens verketten sich unterschiedliche Faktoren. Einer davon betrifft unser Schulsystem: In Deutschland ist in vielen Köpfen die Tradition des dreigliedrigen Schulsystems noch sehr präsent. In diesem System waren Abitur und Studium einigen wenigen vorbehalten. Obwohl der Weg zum Abitur mittlerweile viel mehr Schülerinnen und Schülern offensteht, wirkt diese Tradition nach, wenn Eltern mit ihren Kindern Entscheidungen für den weiteren Lebensweg treffen. Wir wissen etwa, dass Eltern abhängig von der sozialen Herkunft die Leistungsfähigkeit ihrer Kinder unterschiedlich einschätzen. Das kann dazu führen, dass Eltern sich für unterschiedliche Bildungswege entscheiden, auch wenn Kinder ähnlich leistungsstark sind.
Bildung findet allerdings nur zu einem bestimmten Teil in der Schule statt. Viele Unterschiede werden zwar in der Schule sichtbar, aber sie entstehen schon viel früher, zum Bespiel bereits im Bereich der frühen Bildung. Die Frage ist hier, wie gut Eltern ihre Kinder unterstützen können. Können sie fördern, können sie fordern – insbesondere dann, wenn Probleme beim Lernen oder mit der Motivation auftreten? Wir wissen, dass dieser außerschulische Bereich mitentscheidend für die Ausprägung und Stabilität von Ungleichheiten des Bildungserfolgs ist.
Warum wirken sich die Lebensumstände der Kinder und Jugendlichen negativ auf ihren Bildungserfolg aus?
Die Risikolagen, die der Bildungsbericht benennt, sind sogenannte Proxies, also wissenschaftliche Annäherungen an schwer messbare Phänomene. Die Tatsache, dass jemand formal gering qualifiziert ist oder ein geringes Einkommen hat, führt nicht automatisch dazu, dass Kinder benachteiligt sind. Es sind immer die Mechanismen, die dahinterstehen. Wenn ich weniger Geld zur Verfügung habe, habe ich weniger Möglichkeiten, die Bildung meines Kindes zu unterstützen, zum Beispiel könnten die Mittel für notwendige Unterstützungsleistungen fehlen. Das können einfache Nachhilfeangebote sein oder lerntherapeutische Angebote beim Vorliegen einer Lernschwäche oder -störung. Darüber hinaus sind hier aber auch verschiedenste außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote zu zählen, wie zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder der Besuch einer Musikschule. Beide Aktivitäten sind mit zum Teil nicht unerheblichen Kosten verbunden. Die Leistungen des Bildungspakets des Bundes adressieren zwar genau solche wichtigen Aktivitäten, können die damit verbundenen Kosten aber nicht komplett abdecken. Hinzu kommt, dass die Leistungen überhaupt erst auch beantragt werden müssen, das heißt, hier gibt es für viele Menschen eine weitere Hürde. Risikolagen können außerdem Hinweise darauf geben, welchen Stellenwert Bildung in einer Familie hat: Wie wichtig ist es Eltern, in Bildung zu investieren und Bildung zu fördern? Kennen sie Wege, ihre Kinder an Dinge heranzuführen, von denen wir wissen, dass sie förderlich für den Bildungsprozess sein können, oder gemeinsam kulturelle Angebote zu nutzen? In der Summe können sich solche Prozesse benachteiligend auf Kinder auswirken.
Wie ist die regionale Verteilung dieser Risikolagen?
Der Bildungsbericht untersucht seit vielen Jahren, wie sich die Risikolagen in den Bundesländern entwickeln. Und in der Tat findet man regionale Unterschiede, zum Beispiel sind Kinder und Jugendliche im Süden der Republik weniger mit Risikolagen konfrontiert als im Norden.
Ich finde aber die Differenzierung nach Bundesländern im Grunde weniger entscheidend, denn es gibt in allen Regionen der Republik Kinder, die in Risikolagen aufwachsen. Viel bedeutsamer ist, dass es auf kleinen innerstädtischen Räumen oft große Unterschiede gibt: In vielen Stadtvierteln wachsen Kinder teilweise in sehr privilegierten Kontexten und teilweise in sehr problembelasteten Kontexten auf. Für sie stellen sich in ein und demselben Kiez ganz unterschiedliche Bildungswelten dar.
Es gibt bildungswissenschaftliche Analysen, die versuchen zu verstehen, wie sich das auf das einzelne Kind auswirkt: Die Zusammensetzung einer Klasse etwa kann den Lernerfolg positiv oder negativ beeinflussen. Zusätzlich zu den Effekten der Schule gibt es Nachbarschaftseffekte, die Lernprozesse fördern oder hemmen können. Ob eine Nachbarschaft arm oder reich ist, kann sich auf den Bildungserfolg und den Kompetenzerwerb eines Kindes auswirken – selbst wenn man die Merkmale der Individuen und die Zusammensetzung der Schule berücksichtigt.
Welche Maßnahmen können dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Bildungschancen zu ermöglichen? Welche Rolle spielen außerschulische Angebote dabei?
Ich halte es für die wichtigste Aufgabe, Kinder und Jugendliche bestmöglich dabei zu unterstützen, Kompetenzen zu erwerben und zu verbessern. Viele Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung lassen sich auf Kompetenzunterschiede zurückführen.
Der Ausbau von Ganztagsangeboten ist dabei von besonderer Bedeutung und eine noch nicht optimal genutzte Ressource. Wenn der Ganztag dazu beitragen soll, Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen, müssen die Angebote des Ganztags konzeptionell mit den Inhalten von Schule verbunden werden. Ausschließliche Freizeit- und Betreuungsangebote werden nicht dazu führen, dass sich an den Kompetenzständen der Schülerinnen und Schüler etwas ändert. Gleichzeitig darf die konzeptionelle Verknüpfung von Schule und Ganztag nicht eine Verlängerung von Schulzeit darstellen. So kann die Vermittlung von schulischen Kernkompetenzen mit der Vermittlung von beispielsweise künstlerischen und sozialen Kompetenzen verknüpft werden. Es geht vielmehr darum, im Ganztag eine Mischung von verschiedenen Angeboten bereitzustellen und die zusätzliche Zeit auch für eine intensivere individuelle Förderung zu verwenden. Ein so verstandener Ganztag setzt dann auch spezifischere Qualifikationsanforderungen an das Personal voraus.
Gleichzeitig erscheint es unbedingt notwendig, außerschulische Bildungsanbieter mit in die Angebote des Ganztags einzubinden. Außerschulische Bildungsanbieter aus dem Sozialraum der Kinder sind ein Gewinn für den Abbau von Bildungsbenachteiligungen! Dabei ist es förderlich, wenn die Schule als Lernort erhalten bleibt und sich vernetzt. Wenn zum Beispiel Musikschulunterricht in den Räumlichkeiten der Schule stattfindet, anstatt dass die Kinder dafür den Lernort wechseln müssen, werden Hürden abgebaut.
Welche Bedeutung haben speziell Angebote der kulturellen Bildung für die Förderung von Bildungsgerechtigkeit?
Angebote der kulturellen Bildung sind für Kinder hochattraktiv. Sie geben Kindern die Möglichkeit, sich auszuprobieren und Neues zu entdecken. Es ist eine wichtige Aufgabe für eine Bildungsregion, Zugänge zu kulturellen Angeboten für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Ganz niederschwellig ist das zum Beispiel das Vorlesen, welches als grundlegende Kulturpraktik längst nicht bei allen Kindern und Jugendlichen zuhause stattfindet. Weiter geht es dann natürlich mit den Besuchen von Theatern, Museen oder Konzerten. Solche Bildungsangebote genau dort zu schaffen, wo sich das Leben der Kinder und Jugendlichen abspielt, scheint mir der absolut richtige Ansatz zu sein – selbst, wenn es aus wissenschaftlicher Perspektive sehr lange dauert, bis sie sich auf messbare Leistungen auswirken.
Wie könnte sich die Corona-Krise auf die Situation der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland auswirken?
Ob und in welcher Weise sich Bildungsungleichheiten im Kontext der Corona-Pandemie vergrößert haben, kann man heute noch nicht mit Sicherheit sagen: Es fehlen schlichtweg die dafür notwendigen Daten. Wenn man aber davon ausgeht, dass Schule in der gewohnten Form über Wochen nicht oder ganz anders stattgefunden hat und die Schülerinnen und Schüler verschiedener sozialer Herkunftsgruppen unterschiedliche Möglichkeiten hatten, an den Angeboten des Fernlernens zu partizipieren – sei es durch fehlende technische oder räumliche Rahmenbedingungen oder durch eine nicht hinreichende Motivation – dann müssen wir auch annehmen, dass die sich die Bildungsungleichheiten vergrößert haben. Aber wie gesagt, über das Ausmaß lässt sich noch keine verlässliche Aussage machen. Die Corona-Krise hat das Problem der Bildungsungleichheiten und auch weitere Herausforderungen wie etwa der Umgang mit Heterogenität in den Lehr-Lernkontexten, die notwendige Qualifizierung des pädagogischen Personals oder die bislang unzureichende Digitalisierung unserer Bildungseinrichtungen noch einmal deutlich hervorgehoben. So wurden viele Akteure für die Notwendigkeit des Handelns sensibilisiert. Bildung findet nicht nur in den Institutionen des entsprechenden Bildungsbereichs statt. Für die Schule heißt das, dass sie in einen spezifischen Sozialraum eingebunden ist und dieser eine wichtige Ressource für den Bildungserwerbsprozess von Kindern und Jugendlichen darstellt. Es wird also wichtig sein, dass sich Bildungseinrichtungen stärker als bisher außerschulischen Anbietern öffnen und mit ihnen zusammenarbeiten.
Sehen Sie auch eine Chance in der jetzt sehr schnell voranschreitenden Digitalisierung der Bildung? Wie können digitale Medien und Formate dazu beitragen, Bildungschancen zu verbessern? Und was können digitale Angebote nicht leisten?
Neu ist sicherlich, dass man sich heute viel mehr Angebote vorstellen kann, die digital funktionieren. Niemand hätte doch vor ein paar Monaten gedacht, dass man eine Geigenstunde auch digital abhalten kann. Doch auch wenn man viele Kulturgüter über neue Technologien erfahrbar machen kann, glaube ich, dass digitale Angebote den tatsächlichen Besuch im Museum oder die Live-Erfahrung eines Konzerts nicht ersetzen können.
Es ist sicher gut, dass es digitale Angebote gibt, aber diese können das Problem der Bildungsbenachteiligung nicht für uns lösen. Digitalisierung kann – je nachdem, wie sie eingesetzt wird – einen förderlichen oder hinderlichen Einfluss auf Bildungsgerechtigkeit haben. Dabei darf Digitalisierung kein Selbstzweck sein. Das Vorhandensein eines Werkzeugs führt noch nicht dazu, dass es wirkt: Es muss sinnvoll eingesetzt werden.